Geschwisterliches Abstimmen

Eröffnung. Angelegenheit der Abstimmung

Valentin Schuster wird eine neue Stimme brauchen. Ein seltener Gendefekt sorgt dafür, dass er seine Stimme verlieren und auf eine Sprachassistenz angewiesen sein wird. Eine menschliche und keine synthetische, das ist ihm wichtig. Und am liebsten hätte er dann nicht nur eine Stimme, sondern viele. Eine für jede Stimmung. In „Die vielen Stimmen meines Bruders“ schreibt seine Schwester, die Autorin Magdalena Schrefel, den Suchverlauf zu einer gemeinsamen Erzählung nieder. Was braucht eine gute Geschichte? Spannung, Konflikte, und Wendepunkte, wenn man die Autorin fragt. Verständnis und ein gutes Ende, wünscht sich der Protagonist. Zwei Erzählstimmen, die sich geschwisterlich über Grammatik, Repräsentation und inklusive Lebenswelten abstimmen.

Leonard Grobien und Florentine Krafft sitzen nebeneinander auf dem Boden. Unter und hinter den beiden verläuft eine blau-grüne Stoffbahn. Hinter Leonard Grobien befindet sich sein Rollstuhl. Zwischen den beiden steht ein bunter Kassettenrekorder. Florentine Krafft beugt sich mit dem Oberkörper nach vorn und lauscht mit dem rechten Ohr der Aufnahme des Kassettenrekorders.
Leonard Grobien (li) und Florentine Krafft (re) lauschen der Kinderstimme des Bruders, Foto: Holger Rudolph

Wahlbeteiligung. Wer und was (er)zählt meine Stimme?

Die 26. Ausgabe des „Grenzenlos Kultur“-Festivals zeigt Schrefels Stück im Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz in einer Inszenierung von Marie Bues und Anouschka Trocker, welche 2023 am Schauspielhaus Wien als Komposition aus Schau-, Puppen- und Hörspiel uraufgeführt wurde. Die Geschwister im Stück glauben beide an die Kunst des Schauspiels. Das heißt, dass man vor anderen als jemand anderes sprechen kann. Nicht für, sondern als. Deshalb verleihen die Darsteller*innen Florentine Krafft, Leonard Grobien, und Katharina Halus ihre Stimmen und Körper den Rollen der Schwester, des Bruders und der Stimmenschar. Der kluge wie selbstreflexive Stücktext erzählt von beiden, bleibt aber von der Schwester geschrieben. Jeder Satz handelt zwar von ihrem Bruder, aber verhandelt letztlich auch ihre eigenen Annahmen, Wünsche und Ängste um ihn. Was (er)zählt eine Stimme, wenn jemand anderes ihr die Worte in den Mund legt?

Florentine Krafft sitzt auf einem Stuhl auf einem weißen, leicht erhöhten Podest und schaut auf Leonard Grobien herab. Sie trägt eine blaue Hose und ein rosafarbenes T-Shirt. Leonard Grobien sitzt in seinem Rollstuhl neben dem Podest und deutet mit der rechten Hand auf Florentine Kraffts Position. Er trägt ein grünes, langärmeliges Hemd und eine Jeans Hose.
Florentine Krafft (li) und Leonard Grobien (re) verhandeln eine zugängliche Erzählinstanz, Foto: Holger Rudolph

Die minimalistisch eingerichtet Bühne (Heike Mondschein) stützt dieses zunächst unharmonische Stimmungsbild wirkungsvoll. Florentine Krafft steht auf einem weißen, leicht erhöhten Podest. In diesem abstrakten Aufnahmeraum diktiert sie ihre Worte in wohlwollend erklärender Haltung. Die von der Bühnendecke hinabhängenden Lampenstäbe leuchten mit jeder Silbe wie bei dem Anschlag einer Schreibmaschine auf. „Ich schreibe, damit du sprechen kannst. Schreiben ist jetzt die neue Sprechweise meines Bruders“, verkündet die Schwester. Für den im Rollstuhl sitzenden Leonard Grobien besteht weder auf physischer noch narrativer Ebene die Möglichkeit, die isolierte Erzählinsel zu erreichen. Diese mehrdimensionale Sprachbarriere intensiviert sich zunehmend, indem Florentine Krafft kalkuliert das Publikum anspielt und den stimmlichen Anteil ihres Dialogpartners auf knappe Einwände reduziert. Die Schwester erhebt sich damit zum Vormund der narrativen Identität des Bruders. Das zugleich betont liebevolle Verhältnis der Geschwisterdarsteller*innen entlarvt die Übergriffigkeit der Schwester als etwas, das aus wohlwollender Hilfsbereitschaft entstanden ist.

Abstimmung. Die Welt nicht zu Mitleid rühren, sondern sie verändern

An dieser Stelle generiert die Inszenierung für mich ein Bewusstsein dafür, dass gesellschaftliche Hindernisse und Diskriminierung struktureller Natur sind. Die lauter werdenden Einwände des Bruders kommentieren das Bühnengeschehen und vervollständigen das Problembewusstsein um das repräsentative Sprechen als jemand – insbesondere, wenn man von einer Autorin als jemand festgeschrieben wird. „Was mich behindert, sind die Bilder, die es von Behinderungen gibt“, stellt der Bruder klar. „Die Frage aber bleibt, bei wem liegt die Behinderung? Bei dem, den das Sprechen anstrengt oder bei denen, die sich nicht anstrengen wollen beim Zuhören?“ „Je schwerer mir das Sprechen fällt, desto behinderter denken mich die Menschen. Also bitte lass das einfach. Lass mich lieber glänzen“, bittet der Bruder. Was die Geschichte erzählerisch und inhaltlich ins Bewusstsein ruft, verlangt nicht nach Mitleid, sondern Anerkennung, Perspektivwechsel und Verständnis. Das hatte sich der Bruder von Anfang an gewünscht. Hätte man nur richtig zugehört. Die Erzählverhältnisse verschieben sich. Der abstrakte Aufnahmeraum wird von der Schwester durch den Anbau von drei Rampen auch physisch zugänglich. Nun (er)zählen beide Stimmen gleichberechtigt.

Stimmzählung. Die vielen Leben vieler Stimmen

Es folgt das Casting für die vielen Stimmen. Als Projektionen oder Audioaufnahme sprechen Samuel Koch, Levin Çavuşoğlu, Martin Engler, Godehard Giese, Tobias Herzberg und Tobias Kluckert als „Montagsstimme“, „verführerische Stimme“ oder „souveräne innere Stimme“ vor. Puppenspielerin Katharina Halus mimt diese mit Masken hinter einer transparenten Leinwand. Die unsentimentale, zwischen Witz und Ehrlichkeit verhandelte Abstimmung der Geschwister über die neuen Stimmen machen diese Sequenz zu einer humorvollen Angelegenheit. Dabei verliert die Erzählung keineswegs den Ernst der Absicht. So geht es schließlich darum, welche Leben mit diesen vielen Stimmen wirklich werden könnten. Leonard Grobien entlässt dafür als Bruder Florentine Krafft als Schwester aus dem Bühnengeschehen und imaginiert sich selbst als zukünftiger Feuerwehrmann, Arzt, Anwalt und schließlich Astronaut. In der Leere des bespielten Raums konzentriert sich die Aufmerksamkeit nun ganz auf Grobien. So öffnet sich ein Raum der Möglichkeiten, der Stimmenvielfalt empowert und andere Lebenswege denkbar macht.

Leonard Grobien sitzt auf der rechten Bühnenseite in seinem Rollstuhl auf einem weißen, leicht erhöhten Podest, zu welchem links und rechts zwei Rampen führen. Über ihm hängt eine Lampeninstallation aus fünf Leuchtröhren. Auf der rechten Bühnenseite bewegen Florentine Krafft und Katharina Halus eine Schaumstoffpuppe in schwebenden Bewegungen durch eine Nebelwolke. Die Bühne ist in blauem Licht erleuchtet.
Leonard Grobien (re) imaginiert eine vielstimmige Zukunft, Foto: Holger Rudolph

Abstimmungsergebnis. War das eine gute Geschichte?    

Das von dem Bruder gewünschte gute Ende wird an diesem Abend nicht auserzählt. Sein Wunsch, viele Stimmen zu haben und diese erheben (und auch mal gezielt an die Schwester delegieren) zu können, schon. Mir hat das vielstimmige Kammerspiel einmal mehr bewusst gemacht, wie Stimmen und Repräsentationsverhältnisse unsere Wirklichkeit hervorbringen und welche Möglichkeiten durch gegenseitiges Zuhören, Sprechen und Sprechen lassen möglich werden. Ich stimme den Geschwistern zu – das ist eine gute Geschichte!