Theater wider Verwesung

Mainz, 11.10.2024 „Hauke Haien, der seinen Tod fand im Kampf gegen das Wasser“ – so lautet die Inschrift unter einer kleinen Statue des Deichgrafen im kleinen gelben Tankstellenhäuschen von Trine Jahn (Almut Zilcher). Mithilfe eines Live-Videos wird das Innere des Gebäudes für das Publikum sichtbar auf einen Gaze-Vorhang davor projiziert und eröffnet so einen Blick in die abgeschottete Welt der Hinterbliebenen der großen Flutkatastrophe. Die kleine Statue scheint das Einzige zu sein, das noch an Hauke Haien erinnert. Die vermeintliche Ruhe im dörflichen Alltagstrott stört seine totgeglaubte Tochter Wienke, die als Elisabeth Schmidt in einer Wohngruppe aufwächst und eines Tages unverhofft auftaucht, was so manch alte Wunde aufreißt. Ihre Suche nach den eigenen Wurzeln, ihrer Identität und der Wahrheit über den Tod ihres Vaters inszeniert der einstige Mainzer Hausregisseur Jan-Christoph Gockel in „Der Schimmelreiter / Hauke Haiens Tod“ als gelungene Mischung aus Krimi und tragischer Heldengeschichte – und beschert „Grenzenlos Kultur“ mit dem Gastspiel vom Deutschen Theater Berlin einen sehr gelungenen Festivalauftakt!

 In der Bildmitte sieht man groß den Kopf bzw. das Gesicht von Trine Jahn (Almut Zilcher), das auf den Gaze-Vorhang projiziert ist. Rechts neben ihrem Gesicht ist der Kopf der weißen Angorakatze zu sehen, die mit geöffnetem Maul in die gleiche Richtung schaut wie Trine. An den dunklen Stellen des Bildes auf dem Vorhang, kann man durch diesen hindurch schauen. Hinter dem Vorhang kann man die Tankstelle mit der Aufschrift „Ole Peters und Söhne“ erahnen, auf deren Dach Ole Peters (Mareike Beykirch) auf einem Stuhl sitzt.
Trine Jahn (Almut Zilcher) mit Angorakatze auf der Videoprojektion; im Hintergrund Ole Peters (Mareike Beykirch), Foto: Holger Rudolph

Bereits der Titel verweist auf die geschickte Verflechtung der beiden Textgrundlagen: Theodor Storms 1888 erschienene Novelle „Der Schimmelreiter“ und der 2001 veröffentlichte Kriminalroman „Hauke Haiens Tod“ von Andrea Paluch und Robert Habeck, in dem die schon bei Storm als Figur mit geistiger Behinderung angelegte Wienke die Flutkatastrophe überlebt und zur Protagonistin wird. Das überzeugende mixed-abled Ensemble aus Darstellenden des Berliner Theaters RambaZamba sowie des Deutschen Theaters erweckt den toten Deichgrafen wieder zum Leben und lässt ihn auf seine mittlerweile erwachsene Tochter treffen, gespielt von Hieu Pham und Zora Schemm. Das Finden der Wahrheit erweist sich als schwierige Angelegenheit, wird doch schnell klar, dass jede Person im Dorf eine eigene Wahrheit für die Geschehnisse der Vergangenheit hat. Das der Störung der Totenruhe inhärente dämonische Potenzial, das Wienke durch ihre Nachforschungen freisetzt, inszeniert Gockel in energiegeladenen Bildern, untermalt und verstärkt durch die Livemusik von Anton Berman.

„Jeder Körper hat das Recht auf Verwesung.“ Dieser Satz zieht sich wie ein Mantra durch den Abend, an dem doch vielen Körpern die Verwesung verwehrt wurde. Denn das menschliche Ensemble ergänzen einige von Präparator Jan Panniger aufbereitete Marionetten aus echten Tieren. In grandioser spielerischer Umsetzung verhilft Michael Pietsch diesen zu einem zweiten Leben auf der Bühne. Hund, Angorakatze, Maus, Schimmel und Möwe – sie bilden, haltbar gemacht, eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod, sind dadurch das Einzige, das vielleicht ewig hält.

Es befinden sich drei Personen auf dem Foto. Ganz links, am nächsten zur Kamera, steht Ole Peters (Mareike Beykirch), der im Profil zu sehen ist und sich mit Wienke (Hieu Pham) unterhält, die rechts neben ihm zu sehen ist. Um Ole Peters Schultern liegt das Fell des Hundes, dessen Kopf Mareike Beykirch mit der rechten Hand spielt. Wienke trägt einen roten Jogginganzug und streichelt den Kopf des Hundes, der sie anschaut. Rechts im Hintergrund ist Anton Berman zu sehen, der mit einem Synthesizer die Musik macht. Vor ihm steht ein Mikrofon.
Wienke (Hieu Pham) trifft auf Ole Peters (Mareike Beykirch) und seinem tierisch toten Begleiter, Foto: Holger Rudolph

Der Ernst vielschichtiger ethischer Fragen, die die Inszenierung aufzuwerfen weiß, wird ästhetisch mit Grusel, Suspense oder Slapstick konfrontiert. So konnten sich einige Tatortfans im Publikum das Lachen nicht verkneifen, als nach Hauke Haiens Tod plötzlich Franziska Kleinert zum Soundtrack des beliebten TV-Krimiformats die Bühne absperrt, Beweismaterial sichert und Alibis überprüft. Die langjährige RambaZamba-Schauspielerin weiß im Laufe des Abends als leitende Kommissarin immer wieder gekonnt die Stimmung im Saal aufzulockern.

Die bei Paluch und Habeck aufgeworfenen (klima-)politischen Fragen zur Verantwortung des Menschen für vorherige und kommende Generationen sowie den richtigen Umgang mit der potenziellen Gefahr, die von Naturgewalten ausgeht, wirft auch Gockels Inszenierung auf. In Krisensituationen brauche es jemanden, der voran gehe, um die Zukunft der Menschen zu sichern. In der Lesart der Inszenierung war Hauke Haien (gespielt von Manuel Harder) so jemand. Einer, der im Angesicht der nahenden Katastrophe nicht den Kopf in den Sand steckte, sondern Maßnahmen zum Schutz von Leben und Freiheit ergriff. Ein verzweifelter Kämpfer für die Freiheit der nächsten Generation, der richtig lag. Richtig herum im Grab und richtig in seinen Absichten.

Auf dem Bild sieht man vor einem schwarzen Hintergrund den Oberkörper von Manuel Harder als Hauke Haien und den Kopf des Schimmels. Hauke Haien trägt eine Brille, deren linkes Glas von weißer Farbe bedeckt ist, die sich auf seiner Stirn fortführt. Er trägt schwarze Kleidung und bewegt mit seiner rechten Hand von innen das Maul des Pferdes, wodurch dies zum Leben erweckt wird. Der Pferdekopf befindet sich links schräg über Hauke Haien. Im Maul hält das Pferd einen Pinsel mit weißer Farbe daran.
Manuel Harder als wieder belebter Schimmelreiter Hauke Haien; Foto: Armin Smailovic

Die ästhetisch sehr überzeugende, kurzweilige und inhaltlich dichte Inszenierung endet mit einem wunderbaren Bild der Verwesung im Sinne von Vergänglichkeit. Hinter Wienke wird das Bühnenbild abgebaut und alle Spuren ihrer aufgelesenen Vergangenheit wieder verwischt. Was gerade passiert ist, existiert nur noch in den Köpfen des Publikums, lebt in der Erinnerung. Und wie sieht die Zukunft in 150 Jahren aus? Die Erde ist ein Wüstenplanet und es gibt immer noch den Tatort.