In ihrem Stück “No Gambling” (engl. no gambling – ‘Kein Glücksspiel’) testen Julia Häusermann vom Theater HORA in Zürich, die Choreografin Simone Aughterlony und die Regisseurin und Performerin Nele Jahnke das Risiko aus. Das Bühnenbild besteht aus einem riesigen Mobile an dem “space junk” (engl. space junk – ‘Weltraumschrott’) wie eine alte Motorhaube, ein Röhrenfernseher, eine Hundeleine, eine Wassermelone oder eine Jacke aus Perücken hängt. Aber auch ein Dartspiel und eine Machete sind an dem Konstrukt befestigt. Wobei sich die Frage stellt, ob solche Gegenstände auf eine Bühne ‚dürfen‘? Ist das nicht zu gefährlich und riskant? Doch darum geht es in „No Gambling“: um das Risiko, das Spiel und vielleicht auch die Sucht nach beidem. Die drei Performerinnen begeben sich in riskante Situationen und bespielen dabei die Gegenstände auf der Bühne. Sie werfen mit Dartpfeilen auf die Dartscheibe, klettern auf das wackelige Mobile oder zerteilen die Wassermelone mit der Machete. Und sie binden mit ihren Blicken, Handlungen und Worten immer wieder auch das Publikum in ihre Performance ein. Dabei kommt temporär die Stimmung eines Casinoabends oder einer Zaubershow auf, die besonders durch das Licht und die Gegenstände auf der Bühne erzeugt wird. Julia Häusermann tritt als eine Spielleiterin auf und sagt den Zuschauer:innen mit Hilfe von Würfeln die Zukunft voraus, sie bewegt sich zum Takt der Musik oder veranstaltet eine Modenshow. Simone Aughterlony erinnert mit ihrem Kostüm an einen Joker, tanzt durch den Raum und wirkt teilweise wie ein Avatar aus einem Computerspiel. Nele Jahnke stellt mit ihrem weißen Lederkostüm mit rot-braunen Punkten einen menschengroßen Würfel dar, nennt Diskurs-Schlagworte und Nummern wie eine Croupière, und verschlingt zum Schluss eine halbe Wassermelone.
Die Festival-Bloggerinnen Thyra Bockrath und Leonie Rinkens unterhalten sich über “No Gambling” und tauschen ihre Erfahrungen aus.
Thyra Bockrath: Wie war denn dein erster Eindruck von “No Gambling”?
Leonie Rinkens: Ich muss sagen, dass ich am Anfang etwas überfordert war. Zum einen von diesem riesigen Mobile, das mitten auf der Bühne hing und an dem es sehr viel zu entdecken gab. Zum anderen ist viel auf der Bühne gleichzeitig passiert, sodass ich zeitweise nicht wusste, wo ich zuerst hinschauen sollte.
T.B.: Aber meinst du das Stück des Trios wurde in seinem fragmentarischen Stil von der Corona-Pandemie geprägt oder wie ging es dir? Fandest du die Handlungen stimmig? Mir ist aufgefallen, dass die verwendete Musik und verschiedenen Aktionen harmonisch zueinander wirkten.
L.R.: Auf die Musik habe ich tatsächlich gar nicht so sehr geachtet, aber jetzt, wo du das sagst, kann ich das nachvollziehen. Im Allgemeinen kam es mir oft so vor als würden die Performerinnen von einer Aktion zur nächsten springen, aber trotzdem habe ich den Abend als stimmig empfunden. Was die einzelnen Szenen miteinander verbindet, sind die immer wieder aufkommenden Themen Casino, Spiel und Risiko.
T.B.: Das war ein wirklich spektakulärer Abend! Jetzt möchte ich mich auch gerne mal von dem Risiko treiben lassen und ein Casino besuchen. Genauso wie Julia, die auch einmal im Monat ein Casino besucht, wie sie bereits im Interview verraten hat. Eine Szene, in der Julia Häusermann die Würfel auf den Tisch schmeißt, in das Publikum schaut und den Zuschauenden ihre Zukunft vorhersagt, ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Das war der Wahnsinn. Ein neues Haus gewinnen, das Kind während der Schwangerschaft verlieren oder an Brustkrebs erkranken, gehören zu Julias Prophezeiungen, die sie direkt an ausgewählte Zuschauer:innen in den ersten Reihen richtete. Wie ging es dir damit? Ich hatte das Gefühl, dass hier auch Grenzen beim Publikum überschritten wurden.
L.R.: Ja, ich finde, sie ist mit diesen Vorhersagungen schon das Risiko eingegangen, eventuell die Grenzen der Zuschauer:innen zu überschreiten. Allerdings war Risiko ja eben auch das Oberthema des Abends. Das hat man immer wieder in den Aktionen der Performerinnen gesehen. Zum Beispiel als Simone Aughterlony auf das sehr wackelige Mobile geklettert ist oder Julia die Dartpfeile auf Simone warf. Wir als Zuschauer:innen sind aber auch in gewisser Weise ein Risiko eingegangen. Mir kommt dabei vor allem die Szene in den Kopf, in der Julia einer Person aus dem Publikum die Dartscheibe in die Hand drückte und so tat als würde sie mit den Pfeilen darauf werfen.
T.B.: Das war wirklich eine Szene, bei der mir kurz der Atem stehen geblieben ist. Ich glaube auch, dass die Frau aus dem Publikum da kurz richtig Angst hatte, denn hat sich die Scheibe dann schützend vor ihr Gesicht gehalten. Im Gesamten betrachtet, war es für mich ein rastloser und energiegeladener Abend, der mich mit auf eine visuelle Reise mitgenommen hat. Die Berechnung und Herausforderung durch die Wechselwirkung der Drei hielten konstant meine Konzentration aufrecht. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die Performerinnen gierig nach der Aufführungssituation in Präsenz sind, nachdem ihnen nun lange Zeit vieles durch die Lockdowns verwehrt geblieben ist.
L.R.: Ich hatte oft das Gefühl, die Performerinnen seien süchtig danach, sich ständig in eine riskante Situation zu begeben.
T.B: Stimmt, es folgte immer eine Aktion der vorherigen und so jagte immer ein Risiko ein neues Risiko. Doch gerade durch die Spannung, die dadurch aufgebaut wurde, war ich so vertieft, dass die gesprochenen Worte untergegangen sind. Auch wenn die Aufführung weniger textlastig war, habe ich dann manchmal Untertitel vermisst.
L.R.: Ja, das ging mir auch so. An einigen Stellen war die Musik sehr laut und ich konnte kaum bis gar nicht verstehen, was die Performerinnen gesagt haben. Ich frage mich aber, ob das vielleicht beabsichtigt war und so noch mehr Chaos geschaffen werden sollte.
T.B.: Das kann gut sein. Trotzdem würde ich das Stück am liebsten noch einmal ansehen, um erneut so viel Spaß zu haben.
L.R.: Mich würde vor allem interessieren, was für kleine Details mir bei einem erneuten Anschauen auffallen würden. Ich habe das Gefühl, mir sind da noch einige Dinge entgangen.