In “Lockdown” suchen wir die vermisste Tess. “Wir” sind Mitglieder einer Telegram-Gruppe, das Smartphone ist unsere Bühne. Das Medientheaterkollektiv Machina eX verhandelt in seiner Produktion die Grenze zwischen Theater und Computerspiel und lädt in den Escape Room.
Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die ihr Handy im Theater konsequenterweise nicht nur lautlos, sondern komplett abstellt. Und trotzdem fürchte ich, es könnte vibrieren, klingeln, irgendetwas stören. In der Performance “Lockdown” von machina eX habe ich zum ersten Mal die Sorge, dass mir das Handy ausgeht.
Das Stück der Berliner Theatermacher*innen, die unter dem Begriff des “Real Life Game Theaters” seit 2010 eine Mischung aus Theater und Computerspiel produzieren, spielt sich nämlich ausschließlich auf meinem Smartphone ab. Angemeldet habe ich mich mit einer einfachen Textnachricht und warte jetzt, zu Hause auf dem Bett sitzend darauf, dass es losgeht. Irgendwie fühle ich mich unvorbereitet: in Jogginghose und nicht recht wissend, was mich gleich erwartet.
Ich öffne Telegram. Diese Messenger-App ist die Bühne für heute Abend: Chris hat mich in die Chat-Gruppe unserer WG eingeladen, wir sind fünf Leute und wohnen in Düsseldorf. Chris ist die Hauptfigur des Spiels und einer meiner Mitbewohner*innen. Aufgrund des Lockdowns sind wir, wie die meisten, bei ihren Familien und haben uns lange nicht gesehen.
“Lockdown” schmeißt mich mitten in die Handlung. Ich empfange Text- und Bildnachrichten und es ist, als ob Freunde mir schreiben. Es wird gewitzelt, der Ton ist locker, ich bekomme Bilder aus der WG-Küche. Ich frage ich mich, ob ich selbst ein Bild meiner Küche schicken soll. Wann ist der Moment gekommen, selbst etwas zu sagen? Darf ich etwas tippen? Wenn ich etwas schreibe, denken die anderen, ich gehöre zum Spiel? Dann werde ich mit Namen angesprochen und gefragt, wie es mir geht. Ich antworte. So legt die Gruppe das Fremdeln ab, ein kurzer Smalltalk, jede*r darf mal was sagen.
Eine Sprachnachricht von Chris bringt die Handlung ins Rollen: Unsere Mitbewohnerin Tess ist verschwunden! Seit ein paar Stunden gibt es kein Lebenszeichen von ihr, also begeben wir uns auf die Suche. Der erste Anhaltspunkt ist die Website des Kurierdienstes, für den Tess Pakete ausfährt. Den Link teilt Chris in der Chat-Gruppe, und dann sind wir auf uns allein gestellt. Von der Spielmechanik her funktioniert “Lockdown” wie ein Escape-Room, ein Raum, aus dem es durch das Lösen von Rätseln zu entkommen gilt. Auf der Website des Kurierdienstes finden wir weitere Hinweise: Tess’ ID-Nummer, ihr aufgezeichnetes Bewegungsprofil, einen Batzen an Telefonnummern. Das besondere an der Umsetzung der Escape-Room-Thematik von machina eX ist, dass ich meine Mitspieler*innen vorher nicht kenne. Ich weiß noch nicht, wer mit mir am Handy sitzt, wer zu den Theatermacher*innen oder den Mitspieler*innen gehört.
Doch wir lernen, zu kommunizieren und uns abzusprechen. Wer ruft welche Nummer an, besucht welche Website? Immer wieder bringen wir uns gegenseitig auf den neusten Stand. Dass wir uns alle erst seit ein paar Minuten kennen, erzeugt einen eigenwilligen und chaotischen Rhythmus. Wir schreiben Nachrichten durcheinander, ich komme mit dem Tippen gar nicht hinterher, jemand grätscht mir unerwartet dazwischen. Trotzdem glaube ich, wir mögen uns langsam ein bisschen. Die Nachrichten werden weniger scheu, wir lernen uns kennen.
Anders als mit meinen Mitspieler*innen kann ich mich mit der Handlung des Spiels kaum identifizieren. Ein Mensch ist verschwunden, wir melden das natürlich nicht der Polizei, sondern machen auf eigene Faust ein improvisiertes Detektivbüro in einer Telegramm-Gruppe auf. Klar. Hier zeigt sich, was ich liebevoll “Videospiele-Logik” getauft habe: Eine Handlungslogik, die nicht immersiv, aber in einem spielerischen Sinne motivierend ist. Ausschließlich wir können da ein Problem lösen, und dieses Problem entfaltet sich auf einem nur für uns sichtbaren Lösungsweg. Da fühlt man sich schlau, ein bisschen heldenhaft und stolpert dennoch nur durch die Informationshäppchen vorwärts.
Haben wir solch ein wichtiges Häppchen gefunden, meldet sich Chris und informiert uns über unseren Fortschritt. Dabei funktioniert er als Taktgeber nicht immer zuverlässig. Es wird überdeutlich, dass ein Programm im Hintergrund unsere Nachrichten nach bestimmten Schlagworten scannt. Fallen diese nicht, erhalten wir zu spät Rückmeldung oder Hilfestellungen, die wir längst nicht mehr benötigen. Das hält auf, erst nach zwei Stunden erreichen wir das Finale.
Darin führen wir Chris durch die Gänge und Flure eines leerstehenden Gebäudes. Er schreibt, was er sieht, wir schreiben, was er tun soll. Die Spielmechanik, inspiriert von alten Computerspielen (Text-Adventures wie “Zork”), wurde hier geschickt aktualisiert. Weil wir die Befehle an Chris mittels Emoji geben, können wir, unabhängig vom Algorithmus, währenddessen als Gruppe weiter diskutieren, ob wir Chris zum dritten Mal in den Raum schicken wollen, vor dem er sich so fürchtet, oder uns darüber aufregen, dass er einen Mantel direkt mitnimmt, anstatt ihn in guter Adventure-Spiel-Manier zunächst zu untersuchen.
Spätestens hier verlassen wir als Gruppe die Story des Spiels vollständig und wollen ausprobieren was die Technik im Hintergrund aushält. Wir erforschen die Grenzen des Programms. Leider reagiert Chris nicht auf die Aufforderung: “Kombiniere Werkzeug mit Stromkasten”, unser Motiv, Chris wirklich helfen zu wollen wird brüchig. Meine Mitspieler*innen und ich sind durch das Unfug-treiben derweil ein eingespieltes Team geworden. Die Spannung, dass es sich hier um Theater-Schauen handelt, ist verflogen und mit ihr die Ernsthaftigkeit. Wir spielen mit- und füreinander ein Spiel. Wir haben die Kontrolle übernommen. Ich habe mich derweil vollständig unter meine Bettdecke gewurschtelt, aus dem Augenwinkel sehe ich mein halb aufgegessenes Abendessen. “Eine seltsame Rezeptionshaltung für ein Theaterstück”, denke ich. Ein Theaterstück, vom eigenen Handeln hervorgebracht, angestiftet durch eine Aufgabe, die es gemeinsam zu bewältigen gilt – und zu dem die Lust gehört, sich mit fremden Menschen auf die Suche zu begeben. Den Spaß daran habe ich bereits gefunden.