Der Belgier Lucas De Man, Theatermacher, Regisseur und freier Künstler, bereiste für sein Projekt „De Man in Europe“ 17 Städte in 8 Ländern, um dort Menschen mit einer Vision für Europa zu interviewen. Im Interview spricht er über Veränderung, Identität und Werte in Europa.
Lucas, was läuft schief in Europa?
Alles und nichts. Das Europa, wie wir es jetzt haben, ist das jüngste demokratische Konzept. Also gibt es natürlich Kinderkrankheiten und Probleme. Das hat sich ursprünglich aus wirtschaftlichen Gründen entwickelt. Und jetzt merkt man, dass man eine Identität braucht, Kultur. Eigentlich ist es ganz einfach. Entweder, wir ändern nichts, dann ist Europa in ein paar Jahren ein Museum geworden. Oder wir packen es jetzt an, dann ist es viel Arbeit, Anpassung, Identitätssuche, aber es kommt Bewegung rein. Also, was läuft schief? Europa ist in der Pubertät, mit allen guten und schlechten Aspekten.
Denkst du, dass du mit deinem Projekt einen Beitrag zu dieser Veränderung leisten kannst?
Da bin ich mir ganz sicher. Wir haben diese Vorstellung jetzt schon in mehr als zehn Ländern gezeigt, wir haben für die EU gespielt, für Minister, für Bürgermeister, für Unis, überall. Und von den 110 Aufführungen waren wir nur 40 Mal in Theatern. Wir merken an den Reaktionen der Leute, dass sie ins Gespräch kommen. Werde ich Welt verbessern? Nein. Werde ich damit Dinge verändern? Das weiß ich nicht. Aber ich kann den Leuten Inspiration und Energie geben, und das ist doch die Basis für alles. Schritt für Schritt. Ich glaube, dass Theater das kann.
Hat sich denn nach dieser Reise auch für dich persönlich etwas verändert?
Ja, auf jeden Fall. Ich habe diese Reise als Inspiration für mich selbst gemacht. Zurzeit bin ich sehr erfolgreich, ich werde immer bekannter, und da fangen die Leute an, einem Aufträge zu geben. „Willst du nicht mal das machen, mach doch das…“ – sie wollen dich festlegen. Und da habe ich gesagt, nein, ich will raus, ich will reisen. Und dann hat jemand zu mir gesagt: Besuch inspirierende Leute, Menschen in deinem Alter, um Inspiration zu bekommen. Ich habe zwei wichtige Dinge auf dieser Reise gelernt. Erstens: Neben allem Mist auf der Welt gibt auch sehr viele schöne Dinge und für jeden Nörgler einen Gegenpart voll Energie. Zweitens: Europa liegt in den Händen von Menschen, nicht von Systemen.
Was genau meinst du damit?
Man muss kleine Schritte machen, Dinge anpacken, das bringt dich weiter als immer nur zu schimpfen, dass das System an allem Schuld ist. Zum Beispiel, sich um Menschen kümmern, die am Rand stehen, nicht wahrgenommen werden. So ein inklusives Festival wie hier, das ist schon mal was. Aber zum Beispiel die leftover people, wie ich sie nenne: Wir reden immer von den Flüchtlingen, aber es gibt auch viele Leute, die keine Flüchtlinge sind. Zehn Prozent der Menschen in Deutschland dürfen nicht wählen gehen, weil es sie offiziell nicht gibt. Für eines der reichsten Länder der Welt ist das eine Schande. Es ist wichtig, das zu sehen und anzunehmen, und dann so zu handeln, wie man selber ist. Ich habe früher immer gedacht, ich muss sozial arbeiten, ich habe zum Beispiel mit Kindern mit Behinderung gearbeitet. Aber letztlich ist das, was ich jetzt mache, am ehesten, wie ich wirklich bin. Und dem muss man sich dann widmen. Nicht nur im Theater, sondern auch außerhalb davon, nicht wegen der Preise und der guten Kritiken, sondern, weil ich bei den Leuten etwas auslösen möchte. Das ist meine Selbstsuche, dass Theater nicht nur für Theaterpublikum gemacht wird, sondern nach außen geht.
Im Vergleich zu anderen Kontinenten haben es die Europäer schwer, eine gemeinsame Identität zu finden. Wie kann man diese stärken?
Seit ich dieses Projekt mache, werde ich immer wieder von EU-Kommissionen gefragt, wie man die europäische Identität stärken kann. Meine Antwort ist: Das kann man nicht von oben herab. Das Einzige was man machen kann, ist Projekte zu stimulieren. Filme, Serien, Kunst, Kreativität. Europa wird nie wie die USA oder China werden, wo die Leute indoktriniert werden, glücklich zu sein. Das darf auch nicht passieren. Die europäische Identität beinhaltet, dass man auch zweifeln darf. Man darf etwas nicht wissen, man darf unsicher sein, man darf unterschiedliche Meinungen haben und doch gehört man zu Europa. Viele Leute in Brüssel hätte gerne eine Kampagne, die aus jedem einen Europäer macht. Das klappt nicht. Eine Identität kann man nicht forcieren. Es gibt schon eine gemeinsame Identität, Musik, Kunst, Theater, wir haben die schon ewig. Das muss man verstärken, durch Austausch, Festivals. Nicht nur in der Kunst. Aber eine Identität erzwingen, ich hoffe, das wird nie passieren. Europa wird von selbst europäischer, wenn die USA stürzen, glaub mir. Und dadurch, dass Asien, China vor allem, stärker wird, bringt man die Menschen jetzt schon näher zusammen.
Jede Generation hat so ihre Phase, in der die Menschen sagen: „Wir müssen jetzt die Welt verändern“, wie die Hippies zum Beispiel. Was ist der Unterschied zwischen den Menschen, die du interviewt hast und den Hippies?
Die heutige Generation ist pragmatischer. Die sagen nicht mehr: „Wir verbessern die Welt“, sondern: „Wir reagieren auf das, was auf der Welt los ist.“ Viele Systeme funktionieren nicht mehr, die Fleischindustrie, die Tabakindustrie, unser Geldsystem. Jetzt entwickelt man neue Systeme in der Praxis. Uber zum Beispiel, das sind in der Theorie schon gute Konzepte, nicht in der Organisation, das ist so schlimm wie alles andere, aber die Idee, dass man Dinge teilt, dass man zusammenarbeitet, das ist eine Veränderung. Und das ist keine Ideologie, das sind einfach praktische Gründe. Denn sonst ist es aus mit uns.
Ich habe letztens im Fernsehen ein Interview über Massentierhaltung gesehen. Da wurde ein Mann im Supermarkt gefragt, worauf er beim Fleischkauf achte und ob er sich Gedanken darüber mache, wie die Tiere gelebt haben. Darauf antwortete er: „Ich kaufe einfach das Fleisch, das ich lecker finde. Macht das Huhn sich Gedanken darüber, wie ich gelebt habe?“ Glaubst du, dass sich Dinge ändern können, wenn viele Menschen noch immer so ignorant sind?
So einfach ist das nicht. Erstens: Es gibt Berechnungen, dass man nur dreißig Prozent der Menschen überzeugen muss, um etwas zu verändern. Also muss man schon mal nicht alle überzeugen. Zweitens: Ich habe vorher ein Projekt gemacht, in dem es um die Fleischindustrie aus Perspektive der Bauern ging. Da gab es keine Bauern, die es so haben wollten, wie es jetzt ist. Die Industrie ist steckengeblieben auf unserem Niveau. Die Supermärkte bieten das Fleisch zu billig an, wodurch die Bauern zu wenig Geld bekommen und so weiter. Das ist ein Teufelskreis. Können wir den Teufelskreis durchbrechen? Ja. In dem Moment, in dem wir als Kunden nein sagen. Und in dem Sinne hat der Kunde mehr Macht als je zuvor. Wenn das natürlich nur ein paar Menschen machen, werden wir da niemanden wachrütteln. Aber die Tierschutzorganisationen richten sich zum Beispiel mittlerweile nicht mehr gegen die Bauern, sondern gegen die Supermärkte und die Politik. Das ist eine sehr gute Entwicklung.
Am Ende von „De Man in Europe“ zählst du drei zentrale Werte auf: Geschichten, Zeit und Bleiben. Warum sind genau diese Werte in unserer Zeit so wichtig?
Wenn der große Rahmen wegbricht, sind Geschichten das Einzige, was noch übrig bleibt. Und mit Geschichten meine ich jetzt keine Märchen und Erzählungen, sondern die menschlichen Geschichten. Zeit ist etwas, das wir uns nehmen oder machen können, also lass uns Zeit machen. Und Bleiben ist natürlich philosophisch gemeint, nicht nur auf die EU bezogen, sondern ein ganz fundamentaler Punkt: Bleib im Gespräch, geh nicht weg. Die Welt ist konstant in Bewegung, und deshalb denke ich, dass es wichtig ist, kleine Schritte zu setzen. Und dann kann man auch wieder atmen. Denn wenn du die ganze Welt verändern musst, dann schläfst du nicht mehr.