Über das Schauen in “Disabled Theater” von Jérôme Bel und dem Theater HORA
„Meine Mutter hat das Stück gesehen und meinte es sei eine Freakshow. Aber sie mochte es“, erzählt Gianni Blumer. „Meine Schwester hat danach im Auto geweint. Sie meinte wir würden ausgestellt wie Tiere in einem Zirkus“, berichtet Matthias Brücker. „Ich mag es. Aber es hat keine Geschichte oder eine Handlung. Also wo ist das Theater?“, fragt Nikolai Gralak.
Es geht um das Stück „Disabled Theater“, eine Zusammenarbeit von Jérôme Bel und dem Theater HORA. Eines der erfolgreichsten Stücke von und mit Künstlern mit Behinderung, das weltweit tourt und auf die wichtigsten Theaterfestivals eingeladen wurde. Es erzählt vom ersten Aufeinandertreffen von Bel und den Schauspielern, von einer künstlerischen Begegnung mit dem Thema „Behinderung“. Ein Abend wie ein Experiment und die Reaktionen darauf: Am Ende werden die Schauspieler gebeten, ihre Meinung über das Projekt zu formulieren – Ergebnis siehe oben.
Das Publikum jubelt, klatscht, singt mit
“The first thing Jérôme ask the actors…”, beginnt Chris Weinheimer mit monotoner Stimme. Er sitzt am Rand, fungiert in diesem Stück als Assistent und Übersetzer (aus dem Schweizerdeutschen), außerdem kümmert er sich um die Musik. Die Schauspieler und Schauspielerinnen spielen sich selbst, auf eine einfache, aber sehr persönliche Art und Weise. Sie stellen sich vor und sprechen über ihre Behinderung. Fast alle leben mit Trisomie 21 oder Lernschwäche. „Na und?“, entgegnet Fabienne Villiger. „Es tut mir leid“, dagegen Julia Häusermann. Sie zeigen, wie unterschiedlich sie persönlich mit ihrer Behinderung umgehen.
Anschließend hat Bel, so erfährt man, die Performer dazu aufgefordert, einen Tanz vorzubereiten. Das Lied durften sie selbst auswählen, von ABBAs „Money, Money“ über Roxette bis hin zu Michael Jacksons „They Don’t Care About Us“. Auch die Choreografie ist eigenständig entstanden. Die Lieder wirken willkürlich ausgewählt. Remo Zarantonello tanzt zu Roxettes “She’s Got Nothing On” und fügt akrobatische Elemente mit ein. Remo Beuggert headbanged zu harter Elektromusik und verleiht dem Wort Stuhltanz eine neue, artistische Bedeutung. Und Julia Häusermann zeigt eine vor Stärke strotzende Choreografie zu Michael Jacksons “They Don’t Care About Us”, ein Lied, das in diesem Zusammenhang besonders unter die Haut geht. Das Publikum jubelt, sobald es ein Lied erkennt, klatscht im Takt, einige singen sogar leise mit. Eine ungewöhnliche Reaktion in einem Tanztheater. Aber ist das überhaupt Theater?
Wie verhalte ich mich richtig?
Das Beobachten wird in diesem Stück scheinbar in ein Spiel umgewandelt. Der Zuschauer beobachtet nicht nur das Geschehen auf der Bühne und die Schauspieler, sondern auch sich selbst. Wie reagiere ich auf das Gezeigte, auf das Gesagte? Darf ich jetzt lachen? Gleich zu Beginn tritt jeder der Schauspieler auf die Bühne. Bleibt eine Minute dort stehen und tut nichts. Eigentlich nichts Bemerkenswertes, aber trotzdem fühlt es sich unangenehm an, voyeuristisch. An dieser Stelle ist einem die Rolle des Beobachters schmerzlich bewusst. Man betrachtet den Schauspieler, sein Aussehen, sein Verhalten. Man kommt sich vor, als würde man ihn regelrecht angaffen. Und man hat doch eigentlich gelernt, dass man das nicht darf.
Das Stück spielt mit diesem entstehenden Konflikt. Auf der einen Seite sitzt man im Theater zusammen, um das Geschehen auf der Bühne zu beobachten. Auf der anderen Seite tun die Schauspieler am Anfang scheinbar nichts, was es rechtfertigen würde ihn zu beobachten. Was wird von mir als Zuschauer also erwartet? Was ist daran noch Theater? Wie verhalte ich mich richtig? Das Publikum versucht diesen Konflikt individuell zu lösen. Jeder tut das was er für angebracht hält. Und die dadurch entstehenden Spannungen sind deutlich zu spüren.
So nimmt “Disabled Theater” indirekt immer wieder die Frage auf, was politisch korrekt ist und unser Verlangen sich so zu Verhalten. Letztendlich bleiben einem am Ende zwei Fragen, für die man versucht auf dem nach Hause Weg eine Lösung zu finden. Wieso stellt man sich als Zuschauer überhaupt die Frage, wie ich mich zu verhalten habe? Wieso reagiere ich nicht einfach ohne nachzudenken?