Mit „Hamlet“ eröffnet das Teatro La Plaza aus Peru die 27. Ausgabe des Festivals Grenzenlos Kultur

„Stopp!“, ruft Álvaro Toledo, während er auf die Bühne stürmt. Er findet seinen Kollegen Jaime Cruz auf der Bühne wieder, der gerade krampfhaft versucht, den weltberühmten „Sein oder Nicht-Sein“-Monolog von Laurence Olivier nachzustellen, der auf der großen Leinwand hinter ihm auf Video läuft: „Du hast keine Ahnung von Schauspielerei. Schauspielern bedeutet nicht imitieren“, sagt Álvaro Toledo. Schnell folgen die anderen Darsteller*innen von „Hamlet“ auf die Bühne. Sie diskutieren die These. Auch das Publikum wird aufgefordert abzustimmen: Ist Schauspielerei Imitation? Im Zuschauer*innenraum wird es hell, viele Hände heben sich, als Toledo um Bestätigung bittet. Aber wie funktioniert Schauspielerei dann?
Auf diese Frage findet das Ensemble vom Teatro La Plaza aus Peru im Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz seine Antwort, indem es die eigenen Erfahrungen Darsteller*innen in die Schauspielerei einfließen lässt. In der Inszenierung von Regisseurin Chela de Ferrari beschäftigen sich Schauspieler*innen mit Down-Syndrom mit der Handlung von „Hamlet“, mit Motiven und Zitaten und auch mit der berühmten Frage „Sein oder nicht sein“. Der „Hamlet“-Stoff wird damit zu einer inspirierenden Vorlage für ihre Erfahrungen und Lebensrealitäten in einer Gesellschaft voller Vorurteile und verpasster Chancen. Damit erschaffen sie eine interessante Mischung aus literarischem Klassiker und der nackten Realität im Alltag der Darstellenden.
Sie berichten von Vorurteilen, denen sie bereits begegnet sind, wie vorgeworfener Kindlichkeit oder Naivität, und wollen damit aufräumen. Dafür finden sie verschiedene inszenatorische Verfahren, die mal mehr und mal weniger direkt mit Shakespeares fünfaktiger Tragödie zu tun haben.

Cristina León Barandiarán, die sich als die Erzählerin des Abends vorstellt, sitzt an einem Schreibtisch und interviewt Jaime Cruz (der hauptsächlich Hamlet verkörpert), während das Ensemble in Alltagskleidung auf dem Bühnenboden zu seinen Füßen sitzt. Sie beginnt mit Fragen über sein Leben mit der Schauspielerei und dem Theater, beispielsweise, was Theater für ihn bedeutet und ob es schwer für ihn sei, Hamlet zu spielen, was er bejaht. Dann stellt sie aber auch intimere Fragen über sein Liebesleben und ob er verliebt sei. In der Behandlung der „Hamlet“-Thematik tauchen dabei immer wieder doppelbödig die Fragen nach dem bevormundenden Umgang neurotypischer Menschen mit Menschen mit Down-Syndrom auf. Besonders emotional: Die Diskussion zwischen Ophelia und ihrem Vater, in der es nicht nur darum geht, dass Polonius nicht einverstanden mit Ophelias Liebe zu Hamlet ist, sondern, dass er sich als neurotypischer Vater besonders um seine Tochter mit Down-Syndrom sorgt. Er macht ihr aber auch klar, dass sie oft unterschätzt wird und das als ihre Waffe einsetzen kann, denn ein Chromosom mehr zu haben, sei wie eine Note besser in der Schule.
Auch die Bühne, die wie ein Probenraum wirkt, in den schnell für die wechselnden Szenen vom Ensemble mal ein Tisch, mal ein Stuhl in die Bühnenmitte gestellt werden kann, illustriert den Charakter der Inszenierung: Während die Schauspieler*innen in Straßenkleidung nur mal mit einer Krone, mal mit einem Mantel die dänische Königsfamilie spielen, scheinen sie selbst durch – „Hamlet“ ist die Folie, Theater ist das Mittel.
Nicht nur mit Abstimmungen, wie oben beschrieben, wird das Publikum integriert. In der Klassiker-Szene der „Mausefalle“, des Spiel-im-Spiel, das Hamlet aufführen lässt, um seinen Onkel als Mörder von Hamlets Vater zu entlarven, werden vier Menschen aus dem Publikum ermutigt, auf die Bühne zu kommen. Sie spielen die Bäume der Kulisse, den Mond und die Halterung der Giftflasche. In einer Umkehrung der stereotypen Vorstellungen, wie neurotypische Menschen die Szene spielen würden, kippt die Szene wie ein Vexierbild zwischen Humor und Bitterkeit. Das Ensemble bespielt auch den Zuschauer*innenraum, was die Grenzen einer Guckkastenbühne verschwinden lässt und für eine gemeinschaftliche Atmosphäre sorgt.
Das Publikum wird in dieser Inszenierung der Gesellschaft gleichgesetzt und mit Claudius verglichen. Er sorgte dafür, dass Hamlet nie die Chance bekam, sich als König zu beweisen. Damit konfrontiert die Inszenierung das Publikum mit den Bevormundungen und Zuschreibungen, die Menschen mit Down-Syndrom erleben: Wege im Leben zu verwehren, die sie absolut meistern würden – wie in diesem Fall die Schauspielerei. Das Ensemble schafft es auf emotionale, aber auch humorvolle Art, mit großer Freude in einer klugen Inszenierung, eine unverwechselbare Arbeit auf die Bühne zu bringen, beispielsweise mit viel Musik und Tanz. Da wird auch gerne mal der „Sein oder nicht sein“-Monolog als Rap performt, zu dem alle Darstellenden tanzen.
Der Abend endet sehr besonders: Jede*r der Darsteller*innen hat einen kurzen Songausschnitt ausgewählt, der zur Applausordnung läuft. Das Publikum klatscht im Takt, während die Darstellenden fröhlich und sichtlich stolz tanzen. Sie fordern das Publikum auf, mit ihnen zu tanzen und auf die Bühne zu kommen. Für einen Moment feiern alle gemeinsam – es vibriert pure Freude im Raum, wie man sie selten erlebt und einen glücklich in den Abend entlässt.
