Holzkakteen, Meeresrauschen, helles Licht und in der Mitte der Bühne eine Liege, auf der sich eine Frau in der Sonne bräunt. Sie trägt einen dunklen Badeanzug, darüber ein weißes, kurzes Strandkleid, einen großen Sonnenhut, sowie schwarz-beige Keilabsatzschuhe. Zu chilliger Musik kommen vier Männer mit roten Badeschorts auf die Bühne. Einer von ihnen ist Joshua, der Sheriff mit dunkler Pilotensonnenbrille. Alle schmachten sie die auf der Sonnenliege liegende Micaela an. Sie bemerkt das, räkelt sich lasziv. Joshua, mit dem sie offenbar zusammen ist, macht ihr einen Heiratsantrag. Sie nimmt ihn an. Plötzlich aber taucht ein Wohnwagen auf, aus dem Carmen mit ihren vier FreundInnen steigt. Mit einer Rose im Mund spannt sie Micaela den völlig gebannten Sheriff aus. Verlobung – war da was?

So beginnt „Carmen“ von Theater Stap und der Compagnie Lodewijk/Louis aus Belgien. Grob folgt die Handlung Georges Bizets berühmter Oper von 1875: Der Soldat Don José aus Sevilla verliebt sich in die Zigarettenfabrikarbeiterin Carmen, die ihn mit ihrer Schönheit und Unabhängigkeit anzieht, und verlässt für sie seine Verlobte Micaela. Carmen jedoch ist eine freie Frau, die sich nicht festlegen will. Don José reagiert mit Eifersucht. Als sie ihn verlässt, ermordet er sie.
Und doch erzählen Stap und Lodewijk/Louis hier eine sehr eigene, auch eigenwillige Version des Stoffs, wie schon die Eröffnungsszene klarmacht. Der größte Unterschied: Statt Bizets eindringlicher Musik erklingen Pop- und Rocknummern, die dank präpariertem Keyboard, Trompete, E-Gitarre und Sirenenstimme zwar heutig wirken, sich aber in einem Stil-Mix verlieren, der mehr irritiert als überzeugt. Die „Habanera“ wird zum wiederkehrenden Motiv umfunktioniert (Musik Dijf Sanders, Mauro Pawlowski, Aline Goffin).
Auch hier steht Carmen im Zentrum als Symbol weiblicher Freiheit. Sie verkörpert Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und sexuelle Anziehung. Doch während der Abend versucht, diese Stärke zu zeigen, bleibt er optisch an der Oberfläche weiblicher Zuschreibungen hängen: kurze Kleider, blonde Lockenperücken, hohe Schuhe. Frauen als Objekt des Blicks, nicht als Gestalterinnen ihrer eigenen Geschichte.
Jedenfalls zunächst. Carmen tritt als selbstbewusste Frau auf. Sie bewegt sich sicher im Raum, weiß um ihre Wirkung und nutzt sie bewusst. Ihre Stärke wirkt bei Hazina Kenis authentisch, doch bleibt sie vor allem auf der Ebene der äußeren Darstellung. Eine tiefere Verletzlichkeit oder innere Spannung zeigt sie kaum – wohl auch, weil die Inszenierung sie als Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit festlegt. In einem großen Schlussbild findet der Abend einen Umgang mit dem tödlichen Schuss auf Carmen durch ihren Geliebten, mit dem sich jede „Carmen“ auseinandersetzen muss. In einem Monolog stellt Hazina Kenis Fragen, die bekannt sind aus Strukturen der Täter-Opfer-Umkehr. Die gesellschaftlichen Ausschlüsse (Behinderung, Hautfarbe, Körperbild) als Begründung für den tödlichen Schuss stellt die Schauspielerin auf der Bühne infrage. Ihre Freundinnen aus dem Camperwagen stimmen ein – so wird ein feministischer Moment aus dem eigentlichen Todesschuss, in dem alle Frauen auf der Bühne in gleicher Geste den linken Arm heben.

Micaela bildet zu Carmen den Gegensatz. Zu Beginn wirkt sie bei Tineke Van Haute angepasst, beinahe naiv, gewinnt aber in Momenten der Eifersucht an Energie. Ihr Versuch, Joshua zurückzugewinnen, zeigt eine andere Art von Selbstbehauptung, nicht aus Stärke, sondern aus Verzweiflung. Gerade darin liegt ihre Wirkung: Sie steht für das, was Carmen vermeidet – emotionale Abhängigkeit.
Der Sheriff Joshua schreibt in seinem Verhalten den Frauen die erwähnten Stereotype zu, sie seien schwach, dumm, führungsunfähig und redeten zu viel. Diese Haltung prägt seine Figur und macht ihn zum Gegenbild von Carmen. Schauspielerisch überzeugt Nikolas Borgers durch Präsenz und Timing. Seine selbstironischen Bemerkungen über seine Behinderung integrieren sich natürlich ins Spiel und verleihen der Figur Authentizität, ohne den ernsten Kern der Rolle zu verlieren. Carmens Freundinnen wirken als geschlossene Gruppe. Sie geben der Hauptfigur Halt, beobachten, kommentieren und versuchen, sie zu schützen. Ihr Zusammenspiel erzeugt Dynamik und stärkt die Figur Carmen, ohne selbst in den Vordergrund zu treten.

Trotz der vielen komödiantischen und ironischen Momente verliert sich das Spiel stellenweise im Überfluss. Der Abend lebt vom Witz und von Bewegung, weniger von emotionaler Dichte. Dadurch entsteht Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum. Die Inszenierung unterhält, berührt aber kaum.
Am Ende bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Bizets Musik, Herzstück der Oper, tritt weit in den Hintergrund, sodass die emotionale Tiefe der Geschichte nur teilweise spürbar wird. Das rote Licht, das während der Vorstellung immer wieder eingesetzt wird, steht sinnbildlich für den gesamten Abend. Es strahlt Erotik, Weiblichkeit und Leidenschaft aus, zeigt Carmen als selbstbestimmte Frau und betont ihre Freiheit und Anziehungskraft. Es bleibt das verbindende Bild des Abends: Sinnbild für Leidenschaft, Weiblichkeit und Freiheit, das die emotionale Wirkung der klassischen Musik nicht ersetzen kann.