Auf dem Bahnhof oder im Theater?

„Was ist denn jetzt mit dem Mord im Regionalexpress?“ Diese Frage stellt sich nicht nur Ermittler Harry Eisenbieger (Christian Behrend) auf der Bühne, sondern auch man selbst, nachdem bereits eine Stunde des Theaterstücks vergangen ist und der Mord völlig in Vergessenheit geraten scheint. Darauf die unmissverständliche Antwort: „Scheiß drauf! Wir lassen uns doch von einem Titel nicht den Inhalt vorschreiben!“ Metatheater also.

Die Sonderkommission für ungelöste Widersprüche auf der Suche nach dem Mörder und den Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Foto: Holger Rudolph

„Mord im Regionalexpress“ ist ein Theaterabend des RambaZamba Theater, mit Jan Bülow als Gast. Auf humorvolle Weise verkörpern die Darstellenden die sogenannte Sonderkommission für unlösbare Widersprüche, die als Passagiere eines Regionalexpresses auftreten und sich schon bald in einem Chaos aus verzwickter Scheinverbrechen und ebenso schwerer Seinsfragen zurechtfinden müssen. Regie dieser abwechslungsreichen Produktion führte Milan Peschel.

Mittig im Bühnenraum steht die Holznachbildung eines Bahnwagons. Darin acht Stühle, je einer pro Darsteller:in, so angeordnet, dass sich vier kleine Sitzgruppen ergeben. Vor dem Waggon ist auf den Boden der Umriss einer Leiche geklebt. Die großen Fragen: Wo ist die Leiche, oder war es doch nur ein erschöpfter Schauspieler? Sind wir auf dem Bahnhof oder im Theater? An der rechten Seite der Bühne hängt ein Bild: Harald Hakenbecks „Peter im Tierpark“, eines der in der DDR am meisten reproduzierten Kunstwerke aus dem Jahr 1960.

Franziska Kleinert, im Sherlock Holmes-typischen, karierten Detektivdress, bringt abrupt Leben in die Szenerie, als sie zielgerichtet auf das Bild zuläuft und es abhängt. Hieu Pham, ganz in Schwarz gekleidet, und Joachim Neumann, im klassischen schwarzen Anzug mit weißem Hemd, verlieren keine Zeit. Sie heften sich schnurstracks an die Fersen der Bilderdiebin. Nach und nach steigen auch die restlichen Schauspieler:innen mit in die Verfolgungsjagd ein. Es folgen mehrere Runden um das Bahnabteil, bis Kleinert es schafft, sich von ihren Verfolgern abzusetzen: Sie bleibt hinter dem Wagon hocken, während die anderen an ihr vorbeilaufen und ratlos vorn an der Rampe ankommen. Am Ende dieser spielerischen Einführung in die Thematik des Kunstraubs, verlässt Neumann die Bühne, nur um sie kurz darauf mit einem Koffer in der Hand wieder zu betreten. Wie durch Zauberhand halten nur alle Darstellenden plötzlich einen Koffer in der Hand. Diese beginnen sie sofort untereinander zu tauschen. Geschäftig wuseln sie durcheinander, bis sich alle Koffer in den Armen von Anil Merickan sammeln, der nun die undankbare Aufgabe hat, acht Koffer von der Bühne zu bugsieren.

Weiter geht die wilde Fahrt des Regionalexpresses 3 und seinen Mitfahrer:innen. Dieser durchquert das ehemalige DDR – Lutherstadt Wittenberg bis Stralsund. Und alle haben das Deutschlandticket. Diesmal wird der Bahnwagon allerdings zweckentfremdet und verwandelt sich durch abnehmbare Wandpaneele, warmes Licht innerhalb des Abteils und Stühle, die nun an in einer Reihe an die Wand geschoben werden, in eine Bar. Der Rest der Bühne ist in dunkelblaues Licht getaucht, es ist Abend. Hieu Pham wirft Schallplatten aus dem Fenster für die Musikwechsel. Bülow und Neumann beginnen, im Wagon pantomimisch Tischtennis zu spielen, was die Kolleg:innen der Sonderkommission (neben den genannten Zora Schemm und Moritz Höhne) gebannt verfolgen. Während der Suche nach dem verlorenen Bild und nach der verlorenen Leiche wird der Abend gleichzeitig eine Suche nach dem verlorenen Osten, dem Berlin der 90er Jahre, dem bezahlbaren Wohnraum, den Kneipen des zunehmend gentrifizierten Prenzlauerbergs.

Peter aus dem Bild „Peter im Tierpark“ ist weg! Das Ensemble von Theater RambaZamba ermittelt, Foto: Holger Rudolph

Immer wieder gelingt es der Inszenierung dabei, fein ziseliert zwischen großem Humor und den komplizierten Fragen des Lebens und seinen Verlusten hin- und herzuchangieren und zwischen Banalitäten und Kunstdiskurs eine elegante Gratwanderung zu vollziehen. Gespickt mit Wortwitzen, Nonsensdialogen und Wiederholungen erinnert das in Kombination mit der Ostästhetik der 70er Jahre in den Kostümen das gar an René Polleschs Arbeiten.

Das Ensemble des RambaZamba Theaters präsentiert einen Abend voller Widersprüche, der die eigene Aufmerksamkeit konsequent fordert und sogar überlistet. Doch selbst die Sonderkommission für unlösbare Widersprüche ist sich schließlich einig: Im Leben wie in der Bahn gibt es keine falsche Richtung. Man braucht höchstens ein bisschen länger.