Zerbrechlichkeit als Kraft und Energie

Mainz, 12.10.2024. Das Adjektiv „zerbrechlich“ bedeutet „leicht zerbrechend“. „Zerbrechen“ bedeutet „entzweibrechen, in Stücke brechen“. So weit so einfach. Doch was bedeutet „leicht zerbrechend“? Das Adverb „leicht“ sagt sich leicht dahin. Doch es gibt ein Problem: Das Problem der Vagheit. Wie leicht ist „leicht“? In seiner Inszenierung „Zer-brech-lich“ spielt Choreograf Alessandro Schiattarella mit dieser Kategorie und erforscht gemeinsam mit den mixed-abled Performerinnen Alice Giuliani, Victoria Antonova (Vi) und Ellen Walther die Bandbreite der Wortbedeutung.

Als Relaxed Performance gastierte „Zer-brech-lich“ nun im Rahmen des „Grenzenlos Kultur“- Festivals im Mainzer Staatstheater (U17) und regte damit das gleichfalls mixed-abled Publikum zum Nachdenken an. Einen großen Wert legt die Arbeit auf weitreichende Barrierefreiheit: Voice-Over-Stimme Linda übersetzt live und simultan die Texte aus englischer in deutsche Sprache und umgekehrt. Und sie liefert zugleich die Audiodeskription, sodass sich für mich ein audiovisuelles Erlebnis ergab, das auf beiden dieser Wahrnehmungsebenen durch die Beschreibung der Körper und Bewegungen sowie der Farben und Formen auf der Bühne alles nahezu vollständig erfahrbar machte. Weitere Transkriptionen gesprochener Texte ließen sich mittels auf die Bühnenelemente projizierter Übertitel nachverfolgen.

Das Performerinnentrio von „Zer-brech-lich“ von Alessandro Schiaterella, Foto: Holger Rudolph

„Watch me how I break apart again“ singt Alice im ersten von fünf Liedern, welche am Abend performt werden, um die eigene Zerbrechlichkeit direkt herauszufordern. Sie erzählt aus einer Mischung aus Stolz und Selbstironie, dass ihr linkes Ohr vor allem die Funktion erfülle, Schmuck zu tragen und ihr rechtes Bein nicht wie ihr linkes gerne tanze und sich bewege, sondern lieber schlafe. Aber ist sie deshalb „leicht“ zerbrechlich? Auch Ellen weiß manchmal nicht, wo ihre Beine sind, wenn sie sie nicht sieht. Und im Fall von Vi sind es ihre Freunde, die sagen, ihre Hände sähen wie Katzenpfoten aus. Vi singt von fragilen Knochen und dem Wissen zu fallen, während sie sich, ohne hinzuschauen, am Rand der rollenden Podeste bewegt. „Who knows what I will break again?“ Was nach der drohenden Gefahr klingt, dass sie etwas zerbricht, ist dabei auf sie selbst gewendet, schließlich ist ihr rechtes, wie sie erklärt, zum Umknicken neigendes Fußgelenk bereits prophylaktisch bandagiert. In dieser Doppeldeutigkeit der Frage versteckt sich auch die verinnerlichte Erwartungshaltung einer ableistischen Perspektive auf zer-brech-liche Körper. Diese Perspektive wird im Laufe der Inszenierung immer wieder impliziert oder explizit herausgefordert. „I do not owe conformity“, singt Ellen. „How come you to assume your opinion counts?” Denn worauf beruhen Meinungen ohne Erfahrungen häufig? Doch sicher auf Vorurteilen.

Vi (li) und Ellen (re), wie sie behutsam mit Beinen und Krücken die auseinandergefallenen Teile wieder neu zusammenfügen, Foto: Holger Rudolph

Immer mehr wird im Laufe der Inszenierung klar: Alles ist irgendwie zerbrechlich im je eigenen Maß. Und das ist nichts Schlechtes. Wir sehen: (aus Stellwänden errichtete) Mauern können brechen, Glas kann bersten und auch ein Pult, das recht stabil scheint, kann von einem auf den anderen Augenblick in seine Einzelteile zerfallen. Wenn es hart auf hart kommt, leben wir alle in zerbrechlichen Körpern in einer Welt voller zerbrechlicher Körper. Selbst die Dinge, von denen wir glauben, dass sie stabil sind, können brechen. Was ist also der Wert von Un-zerbrechlichkeit? Wenn sich mehrere zerbrechliche Körper gegenseitig stützen, können sie gemeinsam Halt finden, standhaft sein und Widerstandsfähigkeit entwickeln gegen die Kräfte, die sie alleine zu brechen drohen. Das erzählt der musiktheatralische Abend mit großer, leichter Leidenschaft.

Große Freude bescherten Alice, Vi und Ellen dem Publikum mithilfe eines Greenscreens, vor dem sie, in verschiedenem Maß selbst grün gekleidet, mit einzelnen herausgehobenen Körperteilen fragmentierte Gestalten performten, die mittels Video auf ein Bühnenelement projiziert wurden. Hintergrundfilter und Zeitlupenfunktionen ließen u.a. eine Qualle, einen Albatros, ein Zentaur oder kopflose römische Statuen entstehen. Am Ende des Abends entfaltet sich die Bühne wie eine Landkarte der kreativen Verwüstung, die Spuren von Vorgängen des energiegeladenen Zerbrechens, Wiederaufbauens und Neuerfindens versammelt. Die vielen losen Teile liegen da in ihrer eigenen Schönheit und feiern das Wort „leicht“ – auch als Denkzettel für ableistische Vorannahmen.