„We have to talk“. Kritik in einfacher Sprache

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Mainz, 18.10.2024. Stromsurren, flackerndes Licht. Weiß leuchtende Lichtleisten am Boden formen ein zimmergroßes Viereck. Auf der Bühne: eine mit Kinderzeichnungen bemalte Stehlampe und zwei weiße Stühle. Auftritt Mutter (Linn Johansson), Vater (Hansel Nezza) und Sohn (Jem Prenafetan). Alle drei in Camouflage-Oberteilen, grauen Jeans, barfuß. Das Kostüm erzählt von einer Einheit. Zusammengehörigkeit, Familie.

 Vater, Sohn und Mutter stehen dicht nebeneinander und ziehen mit der rechten Hand die Nasespitze nach oben zu einer Grimasse. Neben ihnen steht eine leuchtende Stehkampfe und zwei Stühle.
Vater (Hansel Nezza), Sohn (Jem Prenafeta) und Mutter (Linn Johansson) albern gemeinsam herum, Foto: Lídia Serrat

Mehr braucht es nicht, um eine Geschichte zu erzählen, mit der viele vertraut sind: Zwei Menschen lernen sich kennen. Sie verlieben sich, werden zu einer Familie, bekommen Kinder. So weit so gut. Doch was auch viele kennen: Menschen werden durchgewirbelt, vom Leben. Und jede Person geht damit verschieden um. Zwei Verliebte, die scheinbar eine gemeinsame Sprache sprechen, sich vertrauen und schätzen. In diese Zweisamkeit wird ein neuer Mensch geboren. Unausweichliche Veränderungen beginnen. Und um sich als Paar nicht zu verlieren, bleibt nur, aneinander festzuhalten und zu reden. Wir lernen in „Parlem-ne“ aber nicht nur die Sichtweise der Eltern kennen. Auch der Hilflosigkeit des Sohns wird Raum gegeben: seinen zaghaften Versuchen, die Eltern zu einem gemeinsamen Tanz zu bringen. Die Zankerei durch eine Umarmung zu ersetzen.

Regie und Choreografie des Tanztheaterstücks oblag Vero Cendoya. Die katalanische Choreografin gründete 2008 ihre gleichnamige Compagnie. Mit Musikerin Adele Madau startete sie anfänglich Projekte zu zweit. Auch zu „Parlem-ne“ hat Adele Madau die musikalische Komposition beigesteuert. Und seit ungefähr zehn Jahren arbeitet Vero Cendoya mit Menschen mit Behinderung zusammen. Am Projekt „Parlem-ne“ sind zwei professionelle Tänzer (Linn Johansson, Hansel Nezza) und ein Performer mit Down-Syndrom (Jem Prenafeta) beteiligt.

 Vater und Sohn in liebevoller Umarmung. Der Sohn blickt über die Schulter des Vaters in die Kamera, der Vater steht mit dem Rücken zu uns.
Vater (Hansel Nezza) und Sohn (Jem Prenafeta) in liebevoller Umarmung, Foto: Lídia Serrat

Zu Beginn lernen wir die Eltern-Figuren Jaume und Sandra kennen. Jede erhält ein Spotlicht auf der Bühne, während die andere vom Bühnenrand zuschaut. Aus dem Off hören wir sie je einander beschreiben. Was sie aneinander mögen und was nicht. Jaume sei ein neugieriger Mensch, den Sandra weniger leiden kann, wenn er erkältet ist. Denn dafür gibt er dann anderen die Schuld. Und umgekehrt hören wir Jaume über die Mutter sprechen. Vielleicht erkennen hier einige Zuschauer*innen bereits den Film „Marriage Story“ (2019) wieder? Das ist eine US-amerikanische Tragikomödie. Auszüge aus dem Film werden im Verlauf als Tonspur hörbar, um Impulse zu geben. Die gesprochenen Worte werden dann körperlich synchronisiert.

Verhandelt wird die Lebensrealität eines Paares, deren Sohn mit Down-Syndrom auf die Welt kommt. Erziehungsfragen, Familienalltag und Reaktionen, die auf die Familie von außen einwirken. Ein Kinderarzt beschimpft Sandra zum Beispiel, weil sie während der Schwangerschaft nicht genügend Tests gemacht habe. Ein weiterer Arzt kann nicht oft genug erwähnen, dass Jem nicht aussehe wie seine Eltern. Diese erinnern sich: „Wir lachten, um nicht zu weinen.“ Vermutlich werden die meisten Eltern mit solchen Situationen nicht konfrontiert. In „Parlem-ne“ werden sie sichtbar gemacht. An diesem Abend bedeutet der titelgebende Appell  „Wir müssen reden“ nicht, einfach Worte aus dem Mund purzeln zu lassen. Es geht um ganzheitliches, körperliches Begreifen. „Parlem-ne“ zeigt uns, wie das aussehen könnte: In einer schlichten, unaufgeregten und tänzerisch zugleich sehr präzisen Art und Weise.

Es gibt keinen überflüssigen Schnickschnack, jede Bewegung zwischen den Dreien ist genau choreografiert. Nichts wirkt aufgesetzt oder gestisch übertrieben. Wie ein Pendel ergibt sich die eine Bewegung des einen aus der des anderen. Worte können Impulse reingeben, aber wirken nie wichtiger als die körperliche Geste. Dass Jem Prenafeta als einziger nicht-professioneller Tänzer dabei ist, passt zum Thema des Stücks. Er fällt etwas raus und zugleich macht er das hoch präzise und professionell, ohne dabei ausgestellt zu sein. Im Gegenteil. Die Suche nach Harmonie dirigiert er als harmonisches Zusammenspiel auf Augenhöhe.

Sehenswert: Das Videoportrait von 2022 über die Compania Vero Cendoya im Zuge des Festivals NO LIMITS in Berlin.

 


„We have to talk“

18.10.2024, Mainz. Whirring electricity, flickering light. White light strips on the floor form a square. On the stage: a floor lamp painted with drawings and two white chairs. Entering mother (Linn Johansson), father (Hansel Nezza) and son (Jem Prenafetan). All three in camouflage tops, grey jeans, barefoot. The costume tells of a unity. Togetherness, family.

Vater, Sohn und Mutter stehen dicht nebeneinander und ziehen mit der rechten Hand die Nasespitze nach oben zu einer Grimasse. Neben ihnen steht eine leuchtende Stehkampfe und zwei Stühle.
Father (Hansel Nezza), son (Jem Prenafeta) and mother (Linn Johansson) fool around together, Photo: Lídia Serrat

That’s all it takes to tell a story that many people are familiar with: Two people get to know each other. They fall in love, become a family, have children. So far so good. But what many people also know: People get whirled around by life. And each person deals with it differently. Two people in love who seem to speak the same language, who trust and appreciate each other. A new person is born into this togetherness. Inevitable changes begin. And in order not to lose each other as a couple, all that remains is to constantly hold on to each other and talk. In ‘Parlem-ne’, however, we don’t just get to know the parents’ point of view. Space is also given to the helplessness of the son: his tentative attempts to get his parents to dance together. To replace conflicts with a hug.

The dance performance was directed and choreographed by Vero Cendoya. The Catalan choreographer founded her company of the same name in 2008. Together with musician Adele Madau, she started primary projects as a duo. Adele Madau also contributed the musical composition to ‘Parlem-ne’. And Vero Cendoya has been working with people with disabilities for around ten years. Two professional dancers (Linn Johansson, Hansel Nezza) and a performer with down syndrome (Jem Prenafeta) are involved in the project ‘Parlem-ne’.

 Vater und Sohn in liebevoller Umarmung. Der Sohn blickt über die Schulter des Vaters in die Kamera, der Vater steht mit dem Rücken zu uns.
Father (Hansel Nezza) and son (Jem Prenafeta) in a caring hug, Photo: Lídia Serrat

At the beginning, we get to know the parent characters Jaume and Sandra. Each is given a spotlight on stage, while the other watches from the edge of the stage. We hear them describe each other from offstage. What they like and dislike about each other. Jaume is a curious person who Sandra dislikes less when he has a cold. Because then he blames others for it. And vice versa, we hear Jaume talking about his mother. Perhaps some will already recognise the film ‘Marriage Story’ (2019)? This is an American tragicomedy. Excerpts from the film will be heard to give impetus. The spoken words are then physically synchronised.

‘Parlem-ne’ deals with the reality of life for a couple whose son is born with down syndrome. Educational issues, everyday family life and reactions that affect the family from outside. For example, a paediatrician insulted Sandra for not having had enough tests during her pregnancy. Another doctor can’t mention often enough that Jem doesn’t look like his parents. They remember: ‘We laughed to keep from crying.’ Most parents are probably not confronted with situations like this. In ‘Parlem-ne’ they are now made visible. On this evening, the appeal in the title, ‘We need to talk’, does not mean simply letting words tumble out of the mouth. It is about holistic, physical comprehension. ‘Parlem-ne’ shows us what this could look like: In a simple, unagitated and at the same time very precise dance-like manner. There are no unnecessary frills, every movement between the three is precisely choreographed. Nothing seems contrived or gesturally exaggerated. Like a pendulum, the movements of one result from those of the other. Words can provide impetus, but never seem more important than the physical gesture. The fact that Jem Prenafeta is the only non-professional dancer in the piece fits in with its theme. He stands out a little and at the same time he does it with great precision, without being exposed. On the contrary. He conducts the search for harmony as a harmonious interplay at eye level.


Worth seeing: The 2022 video portrait of Compania Vero Cendoya as part of the NO LIMITS festival in Berlin.