Starker Inhalt, trashige Form

2002, Berlin Prenzlauer Berg, Unter dem Motto: “Veränderung  muss sichtbar werden” landete ein zwei Meter großer Schaumstoff-Froschkönig auf dem von technohörenden Junkies besetzten Helmholzplatz. Das Helmi zog zunächst mit seinem Puppentheater Kinder in seinen Bann und begeistert nun, fast 20 Jahre später bei Grenzenlos Kultur auch erwachsenes Publikum. Jeden Abend halten sie mit ihrer “Zeitung der Zukunft” auf dem Tritonplatz das Festivalpublikum auf dem Laufenden.

Ich traf Florian Loycke, den Mann, dessen Puppen Schaumstoff-Matratzen nicht ruhig schlafen lassen, zu einem intensiven Gespräch. Hier die Light-Light-Version.

“Show der Zukunft” mit heiteren Monstrositäten. Foto: Holger Rudolph

Mario Thunert: Florian, Du hobst das Helmi mit Deiner ersten Puppenfigur aus der Taufe. Warum musste gerade eine Matratze dafür ihr Leben lassen?

Florian Loycke: Es fing an mit der Idee von der Figur des Froschkönigs, für die ich nach einem schwabbeligen Stoff gesucht habe. Zu der Zeit haben wir als  Hausbesetzer in Wohnungen gewohnt, in denen viele Schrottmöbel herumlagen, und man so eine Matratze dann eben opferte.

MT: Warum ist Schaumstoff  das ideale Material für deine Puppen?

FL: Schaumstoff ist ein Material, das resoniert, Widerstand gibt und etwas Eigenes hat, mit dem man dann korrespondiert und das einem eine Kafeesatz-artige Struktur vorgibt, von der man sich inspirieren lassen kann. Diese Art des direkten Umsetzens von Phantasie finde ich wahnsinnig geil und befeuernd.

MT: Ihr sagt, die Puppen sind mit ihren Zuschauer*innen über die Zeit erwachsener geworden. Gibt es jetzt mehr Philosophisches, Politik, Gesellschaftskritik in Eurem Programm?

FL: Wir vertreten mit den Figuren auch im Kindertheater keine kindlichen Standpunkte und stellen dort zum Beispiel  Fragen nach Geschlechteridentitäten. Das ist weird, aber die Kinder finden das auch lustig, wenn der Prinz nicht weiß, ob er ein Hase ist, oder mehr wie ein Huhn aussieht.

MT: Also Quatsch und Chaos mit Botschaft.

FL: Interessant ist, wenn der Inhalt stark und die Form lustig bis trashig ist. Mit plumpem Quatsch ohne gesellschaftliche Relevanz sind wir nicht zufrieden, auch wenn wir immer mal dafür gehalten werden. Dieses Missverständnis hat auch ein subversives Element, wenn wir beispielsweise  an komischen Orten wie der ägyptischen Botschaft landen, wo wir die Nibelungen mit völlig aus dem Ruder laufenden Männer- und Frauenrollen gespielt haben, vor Leuten, die kritische Stimmen sonst eher abwehren.

MT: Seht Ihr Euch in der  Verantwortung, politische Diskurse abdecken zu müssen?

FL: Vieles davon ist abgelutscht. Wir wollen Widerstand mit Puppen entgegen der Erwartungen leisten. Es gibt aber eine komische Dialektik zwischen Widerstand und Nachgeben. So wie wir die Corona-Leugner nicht thematisieren wollten, treten bei uns jetzt Figuren auf, die persiflierend schreien: „Ich lass’ mich nicht impfen!“ Generell beschäftigen wir uns lieber mit unserem Späti-Mann.

Die “Zeitung der Zukunft” auf dem Mainzer Tritonplatz. Foto: Holger Rudolph

 MT: Er ist einer der Stars der “Zeitung der Zukunft, die Ihr dieses Jahr gegründet habt. Aber wer liest in Zukunft eigentlich noch Zeitung?

FL: Man liest Zeitungen, um etwas zu erfahren, was eben nicht zu den Top-News zählt. Zeitung lesen heißt für mich, dass ich  mich zum Beispiel auf etwas einlasse,  was in  meiner Stadt passiert.

MT: Eure Zeitung der Zukunft ist vollkommen analog. Welche Perspektive siehst Du für Printmedien?

FL: Es kommt darauf an, ob die Leute wieder ein stärkeres Bedürfnis nach einer ruhigeren Betrachtung entwickeln. Gerade Corona stellt diese Gretchenfrage in vielen Bereichen: Können wir den Fuß vom Gas nehmen? Wenn, dann geht das jetzt. Ohne Corona wären wir weitergerast. Da liegt eine große Hoffnung drin. Zeitungen haben etwas Entschleunigtes.

MT: Und eine Zeitung in diesen Zeiten ins Leben zu rufen, hat ja auch etwas Utopisch-Hoffnungsvolles.

FL: Wir wollten das gar nicht so stark als Printmedium  machen, sondern als Theaterprojekt. Durch Corona konnten wir allerdings plötzlich nicht spielen und in Reaktion darauf kam die Idee, das als Zeitung zu machen. Weil das Spielen trotzdem immer noch folgen kann, fühlt sich das Momentan an wie Drehbuchschreiben.

MT: Die Zeitung ist also nicht als Reaktion auf eine mediale Problematik entstanden?

FL: Doch. Es gibt kaum noch Artikel, die Leute nicht schon beeinflussen, bevor sie informieren. Zeitungen müssten dem Lesenden ein eigenes Urteil ermöglichen und nicht schon Urteil sein. Höchstens im Kommentarbereich. Wir wollen keine Meinungsmache, sondern Geschichten erzählen.

MT: Eine  Meinungsmache, die sich mit der Verlagerung auf Online-News verstärkt hat?

FL: Total, weil alle Leute so auf Meinung stehen, und Artikel, die erregt schreien, demzufolge mehr Klicks und Werbeeinnahmen bringen. Das ist ein kapitalistisches Problem. Gerade im Online-Bereich sind viele Medien ethisch eingebrochen. Was man der BILD vorwirft, kann man den anderen inzwischen auch vorwerfen. Ich hoffe, dass langsam klar wird, dass das zu keiner guten Gesellschaft führt.

MT: Was sind gesellschaftliche Konsequenzen, die daraus folgen?

FL: Gewalt ist die Konsequenz. Es gibt diese Fraktionen, die sich gegenseitig nicht zuhören. Es läuft nur noch über Erregung und “Ich habe recht, du bist scheiße, ihr seid Nazis, ihr seid Gutmenschen”, bis die ganz Labilen irgendwann anfangen, an Außerirdische und Reptilien zu glauben.

News mit Puppen. Foto: Holger Rudolph

MT: Was sind die stärksten Unterschiede zwischen Eurer redaktionellen Arbeit und der der klassischen Zeitungen?

FL: Wir haben überhaupt gar keine Verpflichtung zu informieren, und dadurch können wir direkt in den Bereich einsteigen, der hinter den Informationen und Meinungen liegt.

MT: Der Bereich hinter den Informationen?

FL: Wir gehen in die Fußgängerzonen und reden mit den Menschen. Ziel ist, Dinge, die man nicht sieht, direkt zu erfahren. Zum Beispiel aus Mikrobegegnungen, die sich am Rhein ergeben.

MT: Was ist für Dich eine Mikrobegegnung?

FL: Eine detaillierte Begegnungsbeschreibung über einen fünf-Minuten-Zeitraum in Großaufnahme. Gestern Nacht sitzen wir in einer Gruppe am Fluss und vorbeikommende Jungs fragten: “Ey, können wir mal Feuer haben?”, und es entwickelt sich ein Wortgefecht: “Warum habt ihr so komische Frisuren, warum geht ihr nicht zum Friseur?” Da kann man total gut einsteigen. Was sind die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe zwischen ihrer und unserer Gruppe? Wie reagieren die auf uns? Wenn du das ganz genau beschreibst, entsteht ganz viel Subtext.

MT: Euer Zeitungskonzept beinhaltet das Ausblenden des Internets und anderer Medien. Sind wir in unseren Handlungen und Wahrnehmungen davon nicht schon durchdrungen?

FL: Ich glaube, dass wir auf eine Art total weich sind, und wenn wir der echten Realität begegnen, sind wir schutzlos, weil wir uns viel auf der digitalen Ebene beschäftigen. Die Auseinandersetzung mit der Welt – Kälte, Nässe, Krankheit – fehlt. Da existiert viel Ablenkung, die auf Ablenkung aufbaut.

MT: Das klingt sehr poetisch. Ihr habt Eure erste Ausgabe in Prosa gehalten. Was ist für Dich Poesie?

FL: Eine klare Geisteshaltung, die sich von dem Alltagsstress abhebt, ihn wegordnet und offen ist für Begegnungen. Nachts in einer Bar zu sitzen und Zeit zu haben, sich existenziellen Gefühlen und Gedanken zu stellen. Erst wenn man das Äußere auf sich wirken lässt, kommt man in Kontakt zu seinem Inneren. Und je detaillierter man wahrnimmt, desto stärker resoniert das auch mit anderen.

MT: Was nimmst Du bisher aus Deiner Wahrnehmung der Pandemiezeit für die Zukunft mit?

FL: In den ersten Corona-Wochen gab es bei uns im Kiez wieder eine konkretere Lokalität: Menschen  lebten mehr  in ihrer unmittelbaren Umgebung, weil man nirgendwo mehr hinfahren konnte. Das war für mich der Moment des Jahres, unsere Vorstellung von Utopie! Keiner hat mehr Autos, plötzlich lernt man seine Nachbarn kennen. Schade, dass dieser Moment schon wieder vorbei ist.