Das Symposium von Grenzenlos Kultur dreht sich in diesem Jahr um Barrierefreiheit. Warum?
Die Ausgangsidee von Silke Stuck und mir war, dass wir viele behinderte Künstler*innen kennen, die in ihrem Arbeiten regelmäßig mit dem Thema Barrierefreiheit konfrontiert sind, weil es Teil ihres Lebens ist und damit auch Teil ihres Arbeitslebens. Zusammen mit diesen Expert*innen richten wir uns an die Stadt- und Staatstheater als auch an die freien Produktionshäuser, um sie für Barrierefreiheit zu sensibilisieren. Als behinderter Mensch fühle ich mich in Theatern oft gar nicht willkommen, wenn ich z. B. nicht reinkomme oder nicht verstehe, was auf der Bühne passiert, weil es keine Übersetzung in Gebärdensprache gibt. Die Frage ist: Wie kriegt man einen Zugang zu Kunst?
Ja, wie?
Herzstück des Symposiums sind unsere fünf Workshops, die unterschiedliche Arten von Barrierefreiheit thematisieren. Natürlich sprechen wir über Rollstuhlzugänglichkeit, mit der Schauspielerin Jana Zöll als Expertin. Dann haben wir einen Workshop vom Schauspiel Leipzig, das seit sehr vielen Jahren Audiodeskription anbietet, also eine Unterstützung für sehbehinderte und blinde Menschen, in der das Geschehen auf der Bühne beschrieben wird. Außerdem gibt es je einen Workshop zu Einfacher Sprache und Gebärdensprache. Undwir haben Jess Thom, die im vergangenen Jahr mit „Not I“ bei Grenzenlos Kultur war und mit ihrer Relaxed Performance für ziemlich viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Das wollen wir jetzt vertiefen.
Barrierefreiheit hat ja nicht nur eine körperlich-technische Seite, sondern ist auch ein Denkmuster in den Köpfen.
Auf jeden Fall! Natürlich gibt es bauliche Barrieren. Aber ich erinnere mich an mein erstes Jahr beim Festival vor fünf Jahren, als ich nach einer Vorstellung zufällig mitgehört habe, wie nicht-behinderte Menschen im Publikum sich nach der Vorstellung darüber unterhielten, dass das jetzt schon anstrengend war, dass da auch behinderte Menschen im Publikum waren. Es waren nicht mal viele, ein paar Künstler*innen, die am nächsten Abend gespielt haben und sich die Vorstellung angesehen und sich nicht genau so verhalten haben, wie sich das Mainzer Abonnement-Publikum das vielleicht gewünscht hätte. Deswegen finde ich es wichtig auch ein behindertes Publikum zu generieren.
Wie lassen sich diese Barrieren in den Köpfen einreißen?
Indem man behinderte Künstler*innen auf der Bühne sieht. Vor allem aber über den näheren Kontakt, also wenn zum Beispiel Personen neben einem im Publikum sitzen. Und klar, da ist noch total viel zu tun! Das ist ja nicht nur ein Theater-Ding, sondern hat viel damit zu tun, dass behinderte Menschen nicht selbstverständlich Teil unserer Gesellschaft sind – in allen Bereichen.
Haben Sie ein Beispiel?
Ich habe dieses Semester hier an der Johannes Gutenberg Universität ein Seminar zu Behinderung und Theater gegeben. Zu Beginn habe ich meine Studierenden gefragt, wer regelmäßig Kontakt zu behinderten Menschen hat – weniger als die Hälfte. Und das ist nicht ungewöhnlich! Eine weitere Barriere besteht darin, dass viele Menschen denken, dass sich behinderte Menschen – insbesondere Menschen mit Lernbehinderung – nicht für Theater interessieren. Oder dass sich eine blinde Person nicht für ein Tanzstück interessieren kann. Das sind Vorannahmen, die Ausschlüsse produzieren, die nicht sein müssen.
Sind diese Akte der Bevormundung, auch des Mitleids, eine Barriere?
Na klar! Wenn eine Person gar nicht erst gefragt wird, ob sie ins Theater mitkommen oder Teil eines Spielklubs sein möchte, dann werden da Entscheidungen getroffen, die weitreichende Konsequenzen haben. Apropos Mitleid: Oft werden bei Menschen mit Behinderung andere Maßstäbe gesetzt, ihre künstlerische Arbeit gleich als etwas Besonderes angesehen. Niemand würde zu uns sagen: „Oh, wie besonders und schön ist es, dass du abends ins Theater gehst oder dass du einen Schauspielkurs besuchst.“ Künstler*innen wünschen sich ehrliche Kritik für ihre Arbeit. Viel zu selten geht es in Kritiken darum, dass da Menschen mit Behinderung auf der Bühne stehen, die Theater machen, das ich genauso kritisieren kann wie bei nicht-behinderten Schauspieler*innen. Stattdessen wird das Besondere betont, das in seiner Kritiklosigkeit ja auch etwas Voyeurhaftes hat: „Oh, da sind Menschen mit Behinderung auf der Bühne.“ Den künstlerischen Arbeiten wird das nicht gerecht.
Ab wann fängt eigentlich eine Behinderung an und wann hört „normal sein“ auf?
Das ist die Frage. Behinderung hängt an gesellschaftlichen Normen. Deswegen wollen sich zum Beispiel viele taube Menschen ungern als behindert bezeichnen lassen, weil sie sagen: Wir sind nicht behindert, wir haben einfach nur eine andere Sprache, die Gebärdensprache. Es geht weniger um ein Behindert-Sein, darum, wie der Körper einer Person ist oder was für medizinische Diagnosen diese Person hat. Sondern es geht ganz stark um das Behindert-Werden durch die Gesellschaft. Und da spielt alles das rein worüber wir gesprochen haben: bauliche Barrieren, aber auch die ganzen Vorurteile, die es Menschen nicht ermöglichen, Kultur zu erleben und zu gestalten oder einen bestimmten Beruf wahrzunehmen. Da muss sich noch viel ändern! Und deshalb gibt es unser Symposium.