Symposiums-Vortrag I: Carrie Sandahl über “Time Out: Crip Spacetime and Performance”
Vor Beginn des Vortrags steht Carrie Sandahl aus ihrem Rollstuhl auf und bleibt bis zu dessen Ende stehen. Ein performativer Akt, mit dem sie eine ihrer wichtigen Thesen unterstreicht: Behinderung ist ein variabler Zustand, abhängig von Körpergefühl und sich ändernder Umstände. Da dies zuweilen den Unmut oder das Misstrauen mancher Menschen ohne Behinderung hervorruft, betont Sandahl die Wichtigkeit der von ihr vorgestellten Crip Time (dt. Krüppelzeit); diese beruht mehr auf dem Körpergefühl als auf gesellschaftlichen Zeitnormen.
Sandahl lehrt derzeit an der University of Illionois, Chicago, im Department of Disability and Human Development und leitet das Chicago’s Body of Work – eine Organisation, die Menschen mit Behinderung im künstlerischen und kulturellen Bereich durch Festivals und “artist residency programs” unterstützt.
Ein weiteres Anliegen ist ihr die aktivistische Umwertung des Wortes “crip”. Von vielen Menschen lange abwertend benutzt, erlebt er in jüngster Zeit eine neue Karriere als Begriff der Selbstermächtigung. Sandahls Vorschlag dafür lautet Humor: “Disarm what is painful with wicked humour.” Ähnlich wie bei Begriffen wie queer oder gay soll das Wort durch die Aneignung als Selbstbezeichnung die negative Härte verlieren.
In ihrem Vortrag stellt Sandahl neben einigen wissenschaftlichen Texten, u.a. von Alison Kafer, bemerkenswerte Künstler*innen mit Behinderung und ihre Performances vor. Einer davon ist Matt Bodett mit seinem Programm “What I learned about healing”. Dieses soll mehr Verständnis dafür schaffen, dass bei Behinderungen nicht immer eine Behandlung, sondern auch die mentale Auseinandersetzung von Bedeutung ist. Bodett vermittelt mit seiner Performance – er wirft zu Anfang ein zerbrechliches Gefäß zu Boden und klebt es danach wieder zusammen – die Metapher, dass aus der irreversiblen Zerstörung des Alten etwas Neues entsteht, das zwar Brüche bleiben, sie aber auch ihre Schönheit besitzen. Außerdem, dass manche Dinge ihre Zeit brauchen: Die Performance endet erst, wenn die Vase oder der Krug wieder zusammengesetzt sind.
Sandahl betont, dass Menschen mit Behinderung ein stärkeres Körpergefühl haben als Menschen ohne, denn “sometimes you have to live through to get it”. In Referenz zu ihrer Aussage über crip time führt sie hier das Beispiel an, dass sie ihr Alter gerne in crip years umrechnet – einem Äquivalent zu Hundejahren; “crip time bends the clock to meet disabled bodies and minds”. Demnach soll nicht nach dem Normativen gestrebt werden, denn daran würden Menschen mit Behinderung scheitern. Sandahl stellt die Frage, wie crip time der Gesellschaft vermittelt werden kann und ihre Vorschläge klingen umsetzbar:
Erstens, nicht darüber nachzudenken, wie man Menschen ohne Behinderung eine Behinderung verständlich machen kann, sondern sie einfach soweit mitnehmen, wie sie es verstehen können.
Zweitens, um es in den Worten von Sins Invalids, einem Performance-Projekt, dass Sandahl in ihrer Präsentation erwähnt, auszudrücken: “Crip wisdom is the wisdom of slowing the fuck down.” Und das betrifft nicht nur Menschen mit Behinderungen.