ADHOK aus Frankreich zeigen mit „Great Escapes“ eine so witzige wie berührende Straßentheatershow
Plötzlich sind sie da, die sieben Menschen im Alter von 60 bis 80 Jahren, aufgereiht im Gänsemarsch, jeder mit einem Essenstablett. Stehen auf dem Tritonplatz, zwischen dem Kleinen und dem Großen Haus des Mainzer Staatstheaters. Wirken verwirrt, irritiert von der Außenwelt, auf der Flucht. Plötzlich Musik – und Bewegung: Synchron trippeln sie los, tupfen federleichte Choreografien hin, zärtlich hinskizziert und imperfekt genug, den Darstellern die Rentnerexistenz abzukaufen.
So beginnt das Stationentheater „Great Escapes. Emergency Exit“ der Gruppe ADHOK aus Frankreich. Ein transportierbarer Lautsprecher auf einem Wagen spielt bittersüße Musik, zwei Begleiter dirigieren die Zuschauer um die Performer herum. Von ihnen, ihren Persönlichkeiten, ihren Leidenschaften und Schrulligkeiten lebt „Great Escapes“. Weil man da ältere Menschen kennenlernt, die so cool und hemmungslos und zugleich so angreifbar und verletzlich wirken, dass man sie unbedingt kennenlernen will, auch wenn sie einem zuweilen arg Nahe kommen. Komisch ist das, berührend auch.
Sie wollen nicht ins Heim zurück
„A real british grandma. Vintage style“ beginnt eine der Darstellerinnen mit britischem Akzent. „Spreche fließend Deutsch“, trumpft ein anderer auf. So stellt jeder seine Vorzüge vor. Schnell wird klar, was der Zweck dieser Bewerbungen ist. Die Rentner wollen adoptiert werden. Weil niemand reagiert, ergreifen sie selbst die Initiative. Jeder der Darsteller schnappt sich einen Zuschauer und marschiert mit diesem weiter. Fragt, woher der potentielle Kandidat kommt, ob er Haustiere hat und was eine Adoption verhindern könnte. Wieder vor dem kleinen Haus angekommen werden die Zuschauer in die Menge entlassen.
Sofort begeben sich die Darsteller wieder ins Publikum. Der eine lädt die Zuschauer ein von seinem Essen zu kosten, eine Andere demonstriert ihre Tanzkünste. Dann werden die Darsteller von einer Stimme aus den Lautsprechern zur Ordnung gerufen. Wieder führt der Weg in die Gasse zwischen dem Kleinen und dem Großen Haus. „Was soll ich bloß mit Ihnen anstellen?“, fragt eine Stimme. Den Sieben scheint das egal zu sein. Vergnügt tanzen die Darsteller durch die Gasse, strecken die Zunge heraus. Dann bauen sie Barrikaden auf. Dominique Gras bewaffnet sich mit einem Kleiderbügel. Diese Sieben lassen sich nichts sagen, wollen sich nicht verstecken – und erst recht nicht ins Heim zurück.
Sein Leben leben
Eine der Darstellerinnen, Iréne Palko, besteigt die wackelige Leiter. Anstelle der Tricolore hisst Palko ein geblümtes Stück Stoff. Sie wird von Claudette Walker von der Leiter verdrängt und begnügt sich damit, deren Kleid als Fahnenersatz zu schwingen. Sie steht zwar etwas wackelig auf der Leiter, aber redet doch unbeirrt von dem, was ihr wichtig ist: sich nicht einsperren zu lassen, ihr Leben zu leben. Dann reißt sie sich das Oberteil ihres Kleides herunter und steht da wie die Marianne und damit die Freiheit auf Delacroix‘ Revolutionsgemälde.
Trotzig und wütend werfen sie ihre Tabletts zu Boden, rennen ein letztes Mal zum Publikum, umarmen Zuschauer, drücken ihnen Küsschen auf die Wange, dann sind sie weg. Fast: Plötzlich hupt es, die Gruppe biegt abermals um die Ecke, dieses Mal in einem Wagen, mit dem sie sich fröhlich winkend einen Weg durch die Zuschauer bahnen und verschwinden. Bon voyage!