Inklusion ist ihr Alltag: Hannah Bisdorf, 22, arbeitet bei der Lebenshilfe, die auch Grenzenlos Kultur veranstaltet. Ein Gespräch über das Wort “behindert”, Theater und und warum gesonderte Freizeitveranstaltungen für Menschen mit Behinderung keine Lösung sind
Hannah, ich möchte mich im Gespräch gerne angemessen ausdrücken, fühle mich aber beim Thema Behinderung etwas unsicher. Hast du ein Problem mit dem Wort “Behinderte”?
Nein, “Behinderte” ist doch der richtige Ausdruck! Es gibt ja auch die von den Vereinten Nationen erarbeitete Behindertenrechtskonvention, in denen auch immer vonbehinderten Menschen gesprochen wird. Da brauchst du keine Berührungsängste zu haben.
Aber ich will nicht unsensibel wirken.
Es muss ja nicht heißen, dass der Mensch sich selbst behindert. Vielleicht wird er eher von der Gesellschaft behindert. Aber ich spreche auch lieber von Menschen mit einer Beeinträchtigung oder Behinderung, als von behinderten Menschen. Das Adjektiv ist durch die Umgangssprache mittlerweile doch sehr negativ besetzt.
Du arbeitest schon sehr lange im Bereich der Betreuung behinderter Menschen. Wie bist du als so junger Mensch darauf gekommen?
Wie alle musste ich nach dem Abi irgendwas machen und da ich noch nicht genau wusste, wo ich beruflich hinmöchte, habe ich mich für ein Freiwlliges Soziales Jahr entschieden. Ich wollte natürlich gerne ein Projekt unterstützen, das mich interessiert. Dann habe ich eins mit Autisten in Israel gefunden, das sich sehr spannend angehört hat.
Ohne Vorerfahrung in einem fremden Land dieser Arbeit nachzugehen – das hört sich nach einem Sprung ins kalte Wasser an.
Ja, so verlief die Arbeit dort auch. Natürlich wurde man angeleitet und man hatte zur Not immer jemanden in der Nähe, der einem geholfen hat, doch beispielsweise hast du am Wochenende schon einmal für vier Leute allein die Verantwortung getragen. Ernste Probleme gab es allerdings nie.
Deine Arbeit dreht sich aber nicht nur um das Beaufsichtigen.
Nein, natürlich nicht. Generell geht es bei meinem Job darum, mit den Leuten zusammen zu arbeiten. Zusammen den Haushalt zu führen, zusammen zu spielen, einfach in Kontakt treten. Das Potential dieser gemeinsamen Arbeit wird meistens unterschätzt. In Israel hat eine Gruppe sogar einmal die Woche für ein Theaterstück geprobt.
Wirklich? Wie darf ich mir das vorstellen?
Einige, mit denen man sich das vorstellen konnte, wurden gefragt, ob sie nicht Lust hätten, so was mal einzustudieren. Da haben sich dann einige gemeldet und wurden von einem Betreuer angeleitet. Die Gruppe hat sogar kurze Texte auswendig gelernt und Szenen geprobt. Dazu haben einige auch auf verschiedenen Instrumenten “gespielt” – es war für alle ein Riesenspaß.
Das hätte man nicht unbedingt erwartet. Woran hatten die Darsteller denn am meisten Spaß?
Vor allem am Verkleiden. Das fanden die Meisten echt super. Zum Beispiel hatten wir eine Frau mit einer Kurzhaarfrisur in der Gruppe, die es total klasse fand, sich eine Langhaarperücke aufzuziehen. Mit der ist sie dann herumgelaufen und hat damit rumgespielt. Alle hatten Spaß daran, ihr Äußeres zu verändern.
Und wie sieht es aus mit Theatersehen? Bist du beispielweise mit den Leuten, die du momentan betreust, ins Theater gegangen?
Ich war schon mit Zweien letztes Jahr im Weihnachtsmärchen hier am Staatstheater und das war echt schön. Die beiden haben vielleicht von der Geschichte nicht so viel mitbekommen, aber die Musik, das Licht und die Effekte sind für viele Menschen mit Behinderungen genau so toll wie für Kinder. Es kommt aber natürlich auch ganz auf die Person an.
Glaubst du denn, dass es für Menschen mit Behinderungen genug Optionen zur Freizeitgestaltung gibt? Oder braucht es mehr Veranstaltungen, die für Menschen mit Behinderung konzipiert sind?
Es braucht doch keine Extraveranstaltungen! Man muss die Events nur zugänglicher machen. Oft scheitert es allerdings schon beim Thema Barrierefreiheit.
Wird sich nicht in Deutschland fast überall darum bemüht?
Noch zu wenig. Vor kurzem habe ich einen zwanzigjährigen Rollstuhlfahrer, der nur körperlich beeinträchtigt ist, mit einer Reisegruppe nach Barcelona begleitet. Er ist ein junger Typ und will genau wie wir in die Disco gehen und einen draufmachen. Doch die einzige Disco in seiner Umgebung, die er mit seinem Rolli überhaupt erreichen könnte, ist die der Lebenshilfe. Dort kann er häufig mit den Besuchern mit geistiger Behinderung wenig anfangen. Das ist ein unnötiges Abkapseln der Leute!
Wo siehst du ansonsten noch Handlungsbedarf?
An der Präsenz von Menschen mit Behinderungen muss noch was getan werden, also das Behinderte ganz normal zum Stadtbild gehören und überall anzutreffen sind. Das hat zwar in den letzten Jahren schon zugenommen, sollte aber noch präsenter werden. Die Leute müssen da ihre Berührungsangst verlieren.
Du bist sehr engagiert, arbeitest bei der Lebenshilfe, beim Verein für Körper- & Mehrfachbehinderte und studierst jetzt auch soziale Arbeit. Was fesselt dich so an diesem Beruf?
Die Menschen selbst, denke ich. Sie stehen einem meistens unbefangen gegenüber. Ich habe bisher noch keinen erlebt, der nachtragend gewesen wäre. Einer in meiner Gruppe in Israel hatte zum Beispiel 365 Tage im Jahr durchgehend gute Laune!
Das kann man sich gar nicht vorstellen.
Ja, oder? Ich habe auch das Gefühl bei dieser Arbeit kann ich einfach mal wieder Kind sein. Und es lässt sich einfach so herrlich viel Quatsch machen!
Am heutigen Samstag findet bei Grenzenlos Kultur die Fachtagung “Es geht ums Ganze – Theaterarbeit all inclusive” statt. Sie ist ausgebucht.