Warum es das Wort “normal” in meinem Wortschatz nicht mehr geben wird
Festival-Eröffnung im KUZ, auf den Sitzkissen vor der ersten Reihe: Die Schauspieler von RambaZamba geben eine feucht-fröhliche Selfie-Version von Sophokles’ “Philoktet“. Dabei kommen sie mir nah – gefährlich nah. Nicht nur im räumlich-körperlichen Sinn, wenn Philoktets mächtiger Pfeil auf der Bühne rotiert und mich dabei fast enthauptet.
Immer wieder schauen Jonas Sippel, Nele Winkler, Moritz Höhne und Co. uns Zuschauer unverhohlen an und dringen mit ihren Blicken tief in meine Gedanken. Ich beginne mich zu fragen, warum ich eigentlich hier sitze. Klar, weil das eben zum Projekt und somit zum Studium gehört. Weil unser Blogleiter Georg gesagt hat: Treffpunkt heute Abend halb Acht, “Philoktet” vom Theater RambaZamba. Und weil ich Theater mit behinderten Schauspielern so faszinierend finde, dass es zum Thema für meine Abschlussarbeit wird. Aber was genau macht es so spannend, wertvoll, wundervoll?
Ich sitze also in dieser “Philoktet”-Vorstellung und schaue und höre mir die Schauspieler genau an. Ertappe mich bei Beobachtungen, die ihre Behinderung in den Vordergrund rücken: Bei wem sind die äußerlichen Anzeichen für das Down-Syndrom wie stark ausgebildet? Spucken Schauspieler mit Down-Syndrom eigentlich mehr als Schauspieler ohne Behinderung? Warum sprechen manche von ihnen wie kleine Kinder?
Plötzlich wird mir bewusst, wie sehr ich diese Menschen anstarre und gleichzeitig auf das reduziere, was sie vermeintlich von mir unterscheidet. Ha, Schubladen! Ich schäme mich. Sollte ich als angehende Theaterwissenschaftlerin nicht viel eher auf das achten, was gerade im Stück passiert? Auf Bühnenbild, Kostüm, Musik und Figurenentwicklung?
Schon klar: Schubladen helfen, sich im Alltag zurechtzufinden. Aber dass sie bei mir derart ausgeprägt sind, erschreckt mich. Gedanken wie “Nein wie süß, die hat ja lackierte Fußnägel” oder “Hm, rasieren die sich auch unter den Armen?” stoßen mich nur allzu deutlich darauf, dass ich wohl doch nicht so informiert, neutral und offen bin wie gedacht.
Die Schauspieler mit Down-Syndrom sind wohl doch ganz normale Schauspieler. “Normal” – puh. Was ist das eigentlich für eine Kategorisierung? Ich überlege – und entscheide mich für die radikalste Antwort auf diese Frage: “Normal” ist ein Wort, dass es in meinem Wortschatz in Zukunft nicht mehr geben wird. Denn im Laufe des Abends gewöhne ich mich schnell an die schielenden Augen, die feuchte 3-Wort-Aussprache und die etwas unbeholfene Gestik. Die einzigen, die nicht ganz “normal” wirken, sind in diesem Zusammenhang die Schauspieler ohne Behinderung. Sie fallen auf, indem sie anders sprechen, gucken und sich anders bewegen, als ihre Kollegen mit Down-Syndrom.
Zum Schluss bleibt die Frage, wer hier eigentlich wen anschaut. Die Zuschauer die Darsteller? Oder umgekehrt? Oder ist es am Ende doch vielmehr ein In-Sich-Hineinschauen?
Fest steht: Indem ich meinen Blick schweifen lasse und genau beobachte, eröffnen sich mir neue Perspektiven – fürs Leben.