Von Menschen und anderen Wilden

„Wild Things“ bei Grenzenlos Kultur

Drei zum Preis von einem – das bewährte Supermarktprinzip, das zum Kauf animieren soll, hat auch bei Grenzenlos Kultur sein Ziel nicht verfehlt und die Massen ins Mainzer KUZ gelockt. Doch wer nun befürchtete, mit B-Ware abgespeist zu werden, der konnte sich entspannen, denn ein höchst divergentes Triptychon entfaltete seinen Zauber vor den Augen der staunenden Zuschauer.

Ohrenkuss: Mongolisch ist Mongolisch und klingt wie Mongolisch

In der lauen Abendluft des Innenhofes und in farbenprächtiger Kostümierung luden Julia Göpel, Verena Günnel und Marley Thelen ihre Zuhörer auf eine Reise in die Mongolei ein. Eine Reise, die 2005 tatsächlich stattgefunden hat und deren literarische Ergebnisse, kleine Geschichten über die Erfahrungen und Eindrücke in der Fremde, von den Redakteuren der Zeitschrift „Ohrenkuss“ vorgetragen wurden. Gemacht von Menschen mit Down-Syndrom ist „Ohrenkuss“ nicht nur ein Name, sondern auch ein Motto, denn er beschreibt das, was bleibt, und eben nicht zu einem Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus wandert.

Von dem Aufbruch in die Ferne bleiben nicht nur die bunten mongolischen Trachten, die die Vorleser tragen, sondern vor allem ebenso bunte Reiseeindrücke, die mit einer großen Liebe zum Detail ausgeschmückt werden. Berichtet wird mit tiefer, grollender Stimme von einer Schlachtung, akribisch beobachtet wird das Spannen eines Bogens oder interessiert dem trällernden Taxifahrer zugehört, der, erst mit seinen Fahrtgästen, dann alleine, die Liebe, die Mutter und die Großmutter besingt.

So entsteht aus vielen kleinen Geschichten ein liebevoll gezeichnetes Bild von weiter Landschaft, herzlichen Bewohnern und immer wieder und alles begleitender Musik. Mit der Fahrt zum Flughafen endet zwar die Lesung – doch für die Zuschauer war dies erst der Anfang einer abendlichen (Traum)Reise.

Das Helmi : Die Verlobung in Santo Domingo – Das Kleistmusical

Direkt im Anschluss entführte das Puppenspielerkollektiv „Das Helmi“ das Publikum in eine wilde Dschungellandschaft und verwandelte den kargen Bühnenboden des KUZ in ein undurchdringliches Dickicht, bevölkert von wildem Getier und noch wilderen Menschen. Auf Heinrich von Kleists „Die Verlobung in Santo Domingo“ basiert dieses erste „Musical“ des 2002 in Berlin gegründeten Ensembles. Ganz im Sinne der schauerlichen Novelle über Verrat und Misstrauen steht hierbei auch musikalisch nicht die Harmonie im Mittelpunkt und wird das Musical zum Grusical. Die wundersame,  schräge Welt, die hier entsteht, bevölkern nicht nur Menschen, sondern auch Puppen aus Schaumstoff, Plastik und Pappe.

Die Geschichte des Sklaven Congo Huango, „ein fürchterlicher alter Neger“, wie Kleist ihn beschreibt, hier eher in cooler Lenny-Kravitz-Variante inszeniert, beginnt mit seinem heldenhaften Sprung ins kalte Meer. So rettet er seinem Sklavenhändler Villeneuve das Leben und erledigt nebenbei noch gleich einen heranschwimmenden Hai. Dass Villeneuve Huango nicht nur mit einem innigen Bruderkuss dankt, sondern ihn nun auch bevorzugt behandelt, kann den Hass des Sklaven nicht besänftigen und so meuchelt er seinen Herrn bei der ersten Gelegenheit zur Revolution nieder. Alle Weißen, die sich in diese Gegend verirren – naive Touristen, die noch schnell für den Facebook-Account ein Foto knipsen müssen oder gelangweilt durch die Wildnis tapsen –, wird dasselbe Schicksal ereilen.

Genüsslich entfalten die Puppenspieler nicht nur Huangos Hütte aus einem großen Karton in der Bühnenmitte, sondern mit singenden Blumen und allerlei weiterer Flora und Fauna die ganze Wunderwelt Haitis und lassen dabei keine politische Unkorrektheit aus. Ein Disney World im Zerrspiegel, das immer wieder Gefahr läuft, sich kalauernd ins eigene Spiegelbild zu stürzen. In diese märchenhaft-grausame Umgebung verirrt sich Gustav, ein junger Schweizer, der an die Tür der Menschenfresser klopft. Schnell verliebt er sich in die junge Mulattin Toni, die hier Haus und Hof hütet.

Die Situation spitzt sich zu, als Huango zurück kommt, die Lieder werden wilder, Mensch und Puppe wirbeln über die Bühne und so manches Schaumstoffbeinchen landet direkt im Topf der alten Haushälterin. Immer wieder überspannt der Bogen, ohne zu reißen, denn mit einem Gespür für ironische Brechungen und poetische Bilder peitscht „Das Helmi“ die Geschichte weiter bis zum tragisch-komischen Tod des Liebespaares, denn Gustav wähnt sich von Toni verraten, richtet erst sie und dann, den Irrtum erkennend, sich selbst. Gemeinsam betten sie ihre Häupter zur letzten Ruhe auf dasselbe Kopfkissen und werden posthum doch noch zu Mann und Frau.

Monster Truck: Der Glöckner von Notre Dame

An Schlaf ist im dritten Beitrag des Abends nicht zu denken, eine Vorpremiere und somit eine Performance im Entstehungsprozess. Monster Truck, 2005 am Gießener Institut für Theaterwissenschaft gegründet, hat sich Victor Hugos Geschichte vom Glöckner Quasimodo, der sich in die schöne Esmeralda verliebt, zu Herzen genommen. Oder vielmehr dem Publikum auf den Schubkarren gespannt und es an ebensolche für 60 Minuten gekettet. Immer fünf Zuschauer greifen zu den Kopfhörern, die an einem Wagen befestigt sind und werden so zu einer schiebenden Schicksalsgemeinschaft.

In der Raummitte steht eine große Gipswand mit der Aufforderung, beständig im Kreis zu gehen. Dass sich keiner dieser Anweisung widersetzt, dafür sorgt ein Ritter im Kettenhemd, bewaffnet mit strenger Gestik und Morgenstern. Wie Herdentiere – oder der Touristenstrom in der Pariser Kirche – trottet das Publikum die immergleiche Runde. Zunehmend richtet sich so die Konzentration auf die Gespräche und Interviews, die im Stile eines Radiobeitrages über die Kopfhörer eingespielt werden. Hier wird die Architektur der Kirche beschrieben, zu einer „Live“-Schaltung nach Notre Dame gewechselt oder vom Wunsch erzählt, den Ritter zu spielen, aber aufgrund der eigenen Behinderung auf den Glöckner reduziert zu werden.

Zwischendurch wird die Gipswand zur Projektionsfläche für eine Zeichentrickvariante und eine Hollywood-Verfilmung des literarischen Stoffes. Immer lauter werdendes Klopfen und Hämmern stört die Einblendungen und langsam, langsam, sehr langsam greift durch die Wand die erste Hand. Immer löchriger wird die Mauer, unermüdlich arbeiten sich die Performer aus ihr heraus, schlagen Löcher in sie hinein und vergipsen diese sogleich wieder.

Längst hat das beständige Kreisen, das noch nicht ausgereifte Timing und die stark reduzierte Inszenierung zu einer bleiernen Müdigkeit geführt, gegen die auch der anschwellende Lärmpegel wenig anzurichten vermag. In einem Film-Ausschnitt beschwert sich ein Gaukler über das schwindende Interesse des Publikums. Wichtig seien nicht die, die gehen, sondern die, die bleiben, so wird ihm geantwortet. Vielleicht kam damals nur noch keiner auf die Idee, die Zuschauer an die Inszenierung zu ketten…