Alessandro Schiattarella ist in Neapel (Italien) geboren. Er arbeitet als Tänzer und Choreograf hauptsächlich in der Schweiz. Dieser Beitrag stellt den Künstler vor – und das, was er über Theater denkt.
Alessandro Schiattarella hat als Tänzer bereits für verschiedene Tanzkompanien gearbeitet. Aufgrund einer Nervenkrankheit konnte er nicht mehr den erwarteten „Standard“ erfüllen. Der „Standard“ ist das, was im Tanzbetrieb oft als „Normalität“ gilt. Er aber ist Tänzer, weil er tanzen will. Also suchte er nach einem neuen Umgang mit Tanz. In der Zeit sah er ein Tanzstück von Claire Cunningham. Sie ist eine Choreografin mit körperlicher Be_hinderung. Er findet die Performance sehr stark: Die Repräsentation ihres Körpers und die Einladung zur Teilhabe, „triggern“ ihn. Im positiven Sinn.
Mit Theater gegen Ableismus
Die darstellenden Künste, zu denen auch das Theater gehört, sind für Alessandro Schiattarella Orte, um Ableismus zu verstehen und zu überwinden. Ableismus bedeutet, dass Menschen mit Be_hinderungen von der Gesellschaft ausgeschlossen werden.
Um ableistische Strukturen aufzulösen, muss man verstehen, wie der Mainstream funktioniert. „Mainstream“ bezieht sich auf die Mehrheit der Gesellschaft. Und auf das, was die Mehrheit als „normal“ bezeichnet. Alessandro Schiattarella sucht alternative Erzählungen dafür. Er möchte die Annahmen über Körper und Identitäten verändern. Und die sollen genauso viel Raum und Anerkennung bekommen wie im Mainstream. Auf der Theaterbühne und in der Gesellschaft.
Die darstellen Künste sind für Alessandro Schiattarella auch Orte der Heilung. Dort könne er Unsicherheiten und Ängste heilen, die durch die ableistische Umgebung entstanden sind. Auch weil Theater Ort einer Gemeinschaft sein kann, die sich gegenseitig stärkt. Alessandro Schiattarella ist es wichtig, Künstler:innen kennenzulernen und ihre Wünsche, Bedürfnisse und Tabus in den Vordergrund zu stellen.
Herausforderungen der Zusammenarbeit
Seine Stücke entstehen nicht allein aus einer kreativen Idee. Sondern durch die Aufmerksamkeit auf bestimmte Bedürfnisse. Der Weg von einer Idee zu einer Choreografie ist immer unterschiedlich. Manchmal arbeitet Alessandro Schiattarella autobiografisch, das heißt: mit seiner eigenen Lebensgeschichte. Und manchmal beginnt es mit einer spontanen Idee.
Wenn er mit anderen Theaterhäusern zusammenarbeitet, gibt es häufig eine vorgegebene Idee. Die erarbeitet er dann zusammen mit einem künstlerischen Team. So zum Beispiel auch bei „Zer-brech-lich“. Dass ist das Stück, das bei „Grenzenlos Kultur“ zu sehen ist. Es ist in Zusammenarbeit mit der Staatsoper Hannover entstanden. Die Songs der Musikerin Gina ÉTÉ sind der Ausganspunkt. Die Zusammenarbeit war herausfordernd. Vor allem, weil die Struktur der Staatsoper und die Struktur freiberuflicher Künstler:innen unterschiedliche Rhythmen haben. Das könne zu Konflikten führen, beschreibt Schiattarella.
Kann man als Künstler:in mit einer Arbeit fertig und zufrieden sein? Er habe oft das Bedürfnis, etwas perfekt machen zu wollen. So wie viele Kolleg:innen auch. Dafür bleibt ihm aber nie genug Zeit. Auch für die Arbeit an „Zer-brech-lich“ hätte er sich mehr Zeit gewünscht. Trotzdem ist er damit sehr glücklich. Er ist zwar nicht fertig, aber zufrieden.
Inklusives Theater als Ziel und Hoffnung
Als Choreograf inklusiver Stücke und Kurator inklusiver Festivals arbeitet Schiattarella an der Etablierung inklusiver Theatermodelle mit. Außerhalb seines eigenen Umfeldes trifft er in Italien oder der Schweiz selten auf tatsächlich inklusive Theaterstrukturen. Er fühlt sich in den Diskussionen um inklusive Kunst noch zu wenig wahrgenommen. Andere Themen seien der Gesellschaft gerade wichtiger, vermutet Schiattarella.
Er nimmt dieses Jahr zum ersten Mal am Festival „Grenzenlos Kultur“ teil. Das Festival in Mainz ist ein wichtiger Vorreiter für die inklusive Theaterszene in Deutschland. Schiattarella ist positiv überrascht, dass ein Staatstheater ein inklusives Festival unterstützt. Staatstheater seien häufiger ableistischer aufgebaut als die freie Szene. Am Staatstheater San Carlo in Neapel wäre ein inklusives Festival noch unvorstellbar, sagt er. Sie seien noch nicht so weit, die darstellenden Künste inklusiver zu gestalten. Auch am Theater Basel in der Schweiz fehle ihm der Fokus auf tatsächliche Inklusion noch.
Alessandro Schiattarella hofft, dass Menschen ihre Vorstellungen von „Behinderung“, „Anderssein“ und „Normalität“ gründlich hinterfragen. Wenn man offen für neue Perspektiven ist, können seine Stücke diese ermöglichen. So wie es ihm damals mit den Arbeiten von Claire Cunningham ging. Für „Zer-brech-lich“ wünscht er sich, dass ein kleiner Funke auf die Zuschauer:innen überspringt. Einer, der positiv „triggert“ oder zu Identifikation führt.