Ein Interview mit dem ensemble in transition
Hannah Rex: Auf welchem Weg haben Sie als Ensemble zusammengefunden?
Désirée Hall: ensemble in transition habe ich 2020 in Frankfurt am Main gegründet. Ich bin Ensemblemitglied und Projektleiterin. Vor zwei Jahren kam ich durch Zufall mit Gebärdenpoesie in Berührung. Es ist eine sehr ausdrucksstarke Kunstform und sie hat mich sofort fasziniert. Die Idee, sie mit Neuer Musik zu einer Synthese zu verbinden und als Ensemble mit neuen künstlerischen Aufführungsformen für taube und hörende Menschen zu experimentieren, hat mich nicht mehr losgelassen. Daraufhin habe ich Performerin und Tänzerin Kassandra Wedel angefragt und sie war gleich begeistert von dem ungewöhnlichen Konzept. Sie ist als taube Künstlerin sehr erfahren mit Gebärdenpoesie. Maren Schwier und Larissa Nagel kannte ich noch aus meinem Musikstudium in Frankfurt und auch sie haben gleich zugesagt. Maren ist festes Ensemblemitglied am Staatstheater Mainz und Larissa ist freischaffende Cellistin. Sie spielt unter anderem im Opern- und Museumsorchester Frankfurt. So entstand ensemble in transition, ein hörend-taubes Ensemble.
HR: Sie sprachen schon die Gebärdenpoesie an. Was kann man sich darunter vorstellen?
Kassandra Wedel: Gebärdenpoesie ist Visuelle Poesie – sozusagen Lyrik in 3D. Sie ist eine eigenständige Kunstform. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, wie man Gebärdenpoesie darstellen kann. So wie es auch in der Lyrik verschiedene Arten von Gedichten gibt. Grundsätzlich bauen wir Bilder und Metaphern in den Raum, spielen mit Gefühlen, Rhythmen und diversen Handformen in Reimen. Der Rhythmus der Bewegungen und deren Ausführung machen viel aus, in diesem Sinne ist Gebärdenpoesie für uns Gehörlose manchmal wie Musik fürs Auge. Am besten kommt man in unser Konzert und schaut sie sich mal an!
HR: Das werde ich definitiv tun, ich freue mich schon! Sie spielen hier in Mainz im Rahmen von Grenzenlos Kultur Vol. 24 Ihr Programm „Echo:Reflexion“. Worum geht es da?
Désirée Hall: In unserem Programm spielen wir Musikperformances in der Besetzung Sopran, Flöte, Violoncello und tanzende Gebärdensolistin für taube und hörende Menschen. Dabei erforschen wir gemeinsam ästhetische Sprache und ästhetische Bewegung, spielen mit ihnen und deuten sie neu. Bewegung folgt hier der Musik, aber Musik folgt ebenso der Bewegung. Dabei hinterfragen wir auch gesellschaftliche Grenzen. Die Werke werden unter anderem von experimentellem Musiktheater beeinflusst. Für den Besuch der Aufführung braucht man keine Kenntnisse in Gebärdensprache oder Lautsprache. Das Herzstück des Programms, das aus drei Werken besteht, ist die Komposition „Echo:Reflexion“ von Alexander Reiff, inspiriert von einer Kurzgeschichte von Michael Ende aus „Der Spiegel im Spiegel: Ein Labyrinth“. In dem Werk geht es um eine unendliche, zeitverzögerte Reflexion – ähnlich einem Traum oder einem Gedanken, der immer wiederkehrt und den man vielleicht loswerden möchte. Eine Thematik, mit der sich sicher viele identifizieren können.
HR: Wird die Komposition Ihrer Stücke in Zusammenarbeit mit den Komponist*innen erarbeitet? Und wenn ja, wie läuft der Entstehungsprozess ab?
Désirée Hall: Wenn wir eine neue Komposition einstudieren, geschieht der gesamte Entstehungsprozess immer unter Beteiligung aller Künstlerinnen. Das bedeutet, sobald die Thematik des Werkes feststeht wie z.B. die Kurzgeschichte in „Echo:Reflexion“, fertigt der Komponist – in diesem Falle Alexander Reiff – zunächst ein Kompositionsgerüst an, das uns als Grundlage dient. Im Rahmen der Proben entsteht dann das Werk unter intensiver Mitwirkung aller Ensemblemitglieder inklusive Komponist. Aufgrund der hochkomplexen Thematik, in der wir uns hier künstlerisch und auch gesellschaftlich in der Zusammenführung von Musik und Gebärdensprache bewegen, ist dies die sinnvollste Vorgehensweise. Es ist ein Prozess, in dem wir auch voneinander abhängig sind. Das Endresultat auf der Bühne ist daher stets die Summe der Erfahrung aller Ensemblemitglieder und des Komponisten bzw. der Komponistin. Es ist immer ein explorativer Prozess auf der Suche nach geeigneten ästhetischen Mitteln, die beide Publikumsgruppen gleichermaßen einschließen und Visuelles und Akustisches ausgeglichen sind bzw. einander katalysieren.
HR: Wie funktioniert Ihre Zusammenarbeit im Ensemble dann ganz praktisch? Wie nehmen Sie, Frau Wedel, die Musik wahr? Besonders im Falle der Querflöte und des Gesangs kann ich mir schwer vorstellen, wie das geht.
Kassandra Wedel: Ich kann die Bewegungen sehen: die vom Cello sind größer, aber auch diejenigen von der Flöte habe ich gelernt zu lesen, auch wenn sie feiner sind. Ich muss mich darauf einlassen, dann habe ich eine auditive Klangvorstellung oder spüre die Energie durch ihre Spielbewegungen. Beim Gesang bewegen sich die Lippen und ich kenne die Texte ja und wir haben alles geprobt. (lacht)
HR: Interessant! Wie funktioniert denn auf der anderen Seite die Rezeption von Musik bzw. Ihres Programms für taube Menschen im Publikum?
Kassandra Wedel: Unsere Musikperformances vereinen immer Musik und Gebärden als künstlerische Ausdrucksmittel. Auch die Musikerinnen übernehmen zum Teil Elemente der Gebärdensprache: eindeutige, teils auch abstrakte Bewegungen, die Momente und Stimmung der Musik wiedergeben. Daraus entsteht zusammen mit der Musik und zeitgenössischem Tanz ein sehr ausdrucksstarkes Gebilde und eine Interaktion – ein neuer Raum der Wahrnehmung entsteht. Die Musik findet daher nicht nur auf einer auditiven Ebene statt, sondern auch auf einer visuellen. Ich denke, unsere Ensemble-Konstellation ist neu und sehr modern, es ist auch für taubes Publikum sicher etwas Neuartiges, da es sich nicht um eine 1:1-Übersetzung handelt, sondern alles Teil des gesamten Werkes ist.
HR: Sie sprachen schon an, dass das Publikum – wie auch Ihr Ensemble – gemischt zusammengesetzt ist aus tauben sowie hörenden Menschen. Wie sind denn Ihre bisherigen Erfahrungen der Rezeption von hörenden Menschen?
Désirée Hall: Viele Hörende in unseren Aufführungen haben uns bisher von einer besonderen und intensiven Erfahrung der Wahrnehmung berichtet, die auch eine nachhaltige Wirkung hatte. Die Gebärdenpoesie ist darüber hinaus für die meisten hörenden Zuschauer*innen etwas Neues, das sie neugierig macht. Auch die Erfahrung, Inhalte einmal nicht zu verstehen, wenn sie gebärdet werden, kann zum Nachdenken anregen. „Echo:Reflexion“ ist für viele ein Projekt, das fasziniert, aber auch berührt. Ich denke, man spürt auf und hinter der Bühne auch die Leidenschaft, mit der das Ensemble dabei ist.
HR: Wo Sie gerade von Leidenschaft sprechen: Was ist für Sie persönlich das Schönste an Ihrer Zusammenarbeit?
Maren Schwier: Mich persönlich berührt besonders das gemeinsame Betrachten und Begreifen dieses künstlerischen Schwellenmoments, auf dem unser Programm balanciert; gemeinsam einen Puls, eine Kommunikation und Darstellung finden. Mir ist dabei wichtig, als Sängerin meinem Gesang eine künstlerische Visualität zu verleihen, die keine klassische Übersetzung darstellt, sondern die Bewegung der Stimme im Sinne der Gebärdenpoesie von Kassandra wiedergibt. Kassandras Expertise ist hierbei unersetzlich, um eine Umsetzung zu finden, die am Ende eine gleichermaßen poetische als auch zugängliche Musik-Erfahrung für das Publikum erzeugt. Jede einzelne Künstlerin bringt also ihre individuellen, künstlerischen Erfahrungen auf den unterschiedlichsten Ebenen mit ein und das öffnet so viele Räume, die diese Arbeit für mich so wertvoll und inspirierend machen.
HR: Was möchten Sie als Ensemble Menschen mit auf den Weg geben?
Kassandra Wedel: Dass Musik mehr ist als nur das, was man hört. Sie ist „in transition”: visuell, sichtbar, spürbar, hörbar und bewegt.