Noa Winter ist – neben Katrin Maiwald und Benjamin Wihstutz – eine von drei Organisator*innen des Festival-Symposiums “Out of Time”, das sich mit der Frage auseinandersetzt, ob das inklusive Theater eine andere Zeitlichkeit braucht. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg Universität Mainz und belegt parallel den Masterstudiengang Dramaturgie in Frankfurt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören inklusive und queere Theaterformen. Ein Gespräch kurz vor Beginn des Symposiums.
Noa, warum ist Zeitlichkeit ein derart relevantes Thema, dass man damit ein zweitägiges Symposium füllen kann?
Wir könnten darüber ein noch viel längeres Symposium veranstalten! Es ist ein sehr zentrales Thema, über das noch wenig gesprochen wird, anders als über Raumfragen in Verbindung mit Barrierefreiheit. Dass – auch was Barrierefreiheit angeht – Dinge zeitlich bedingt sein können, ist eine Frage, die für mich eine große Rolle spielt, die aber kaum Beachtung findet. Gerade, wenn wir uns Performances oder Arbeitsabläufe hinter Produktionen anschauen. Zeitliche Momente sind hier eine große Frage.
Welche zum Beispiel?
Wenn man mit inklusiven Ensembles arbeitet, geht es nicht nur darum, ob ein Gebäude Rollstuhlgerecht ist, sondern auch um Fragen wie: Müssen Proben anders strukturiert werden, muss anders gearbeitet werden? Gleichzeitig auch um die richtig spannenden Fragen auf der ästhetischen Seite: Wie können sich andere Zeitlichkeiten auch in der Inszenierung widerspiegeln. Wie können unterschiedliche Zeitlichkeiten da ihren Raum finden? Solche Fragen sollten nicht immer nur als Nachteil betrachtet werden, nach dem Motto: Wir müssen jetzt etwas anders machen, weil wir eben nur so arbeiten können. Viel spannender sind Fragen wie: Was ist das kreative oder subversive Potential hinter Gruppen, die mit völlig verschiedenen Zeitlichkeiten unterschiedlicher Personen arbeiten?
Du sprichst von “unterschiedlichen Zeitlichkeiten”. Könntest du das mit Blick auf das Symposium noch genauer erklären?
Unterschiedliche Zeitlichkeiten kann bedeuten, dass es unterschiedliche Pausen geben muss, die vielleicht im normalen Arbeitsablauf so nicht vorgesehen waren. Es kann aber auch sein, dass Menschen sich nur in einem bestimmten Tempo bewegen können oder Dinge nur eine bestimmte Zeit lang machen können. Ich werde selbst auch darüber sprechen, aber vor allem eine von uns eingeladene Künstlerin, Raquel Meseguer, Tänzerin und Choreographin aus Großbritannien. Sie wird über chronische Schmerzen reden, beispielsweise über den Zustand, dass das Sitzen, das wir zunächst als eine Norm annehmen, die auch im inklusiven Bereich für viele Menschen funktioniert, etwas ist, das für Menschen mit chronischen Schmerzen nur eine bestimmte Zeit lang möglich ist. Hier entsteht also eine Zeitlichkeit, die sich von der einer Person unterscheidet, die sich den ganzen Tag im Rollstuhl bewegen kann. Ein interessantes Beispiel ist natürlich auch der Abend “Not I”, bei der sich, bedingt durch das Tourette-Syndrom, in der Sprache eine andere Zeitlichkeit einstellt. Ähnlich wäre es bei einer Person die stottert, wo die Zeitlichkeit jedes Mal etwas anders ist. Wenn man Menschen mit Tourette, mit Stottern oder mit chronischen Schmerzen hat und plötzlich mit Zeitlichkeiten konfrontiert wird, die man nicht mehr einfach so planen kann, dann finde ich das spannend. Montag werden wir sehen, was das mit einem Beckett-Text macht.
Hat die Kürze der meisten beim Festival gezeigten Inszenierungen auch etwas mit Zeitlichkeit zu tun?
Das ist eine Frage, die sich so einfach nicht beantworten lässt. Klar kann das eine Rolle spielen, dass sich die Bühnenpräsenz manchmal über keine all zu lange Zeit halten kann oder bestimmte Handlungen nur eine bestimmte Zeit lang durchgeführt werden können. Trotzdem liegt es meiner Meinung nach auch an den Formaten, die hier eingeladen werden. Klar, hier wird keine Schillerfassung im Originaltext aufgeführt. Auf dem Festival sind Kunstformen vertreten, die anders funktionieren. Viele stammen aus der Freien Szene, da dauern Abende selten länger als zwei Stunden. Manchmal hat es auch festivalbedingte Gründe, die HORA Show Bob Dylan 115er Traum ist ungekürzt drei Stunden lang. Also man kann sagen, dass es sicher in manchen Fällen an der Zeitlichkeit liegt, aber in den meisten Fällen am Format.
Findet das Symposium in dieser Form zum ersten Mal statt?
Die Form verändert sich jedes Jahr. Im letzten Jahr war die gesamte Veranstaltung weniger öffentlich. Wir legen Wert auf eine Mischung aus Workshops und wissenschaftlichem Austausch. Über Zeitlichkeiten kann man nicht nur sprechen. Man muss auch selbst ins Probieren kommen, denn Zeitlichkeiten zu beschreiben ist sehr schwer. Sie sind ja nichts Sichtbares. Wir machen sie erst sichtbar, indem wir uns Stunden und Uhren ausdenken. Dass wir zwei Workshop-Slots eingeplant haben, ist also sehr zentral. Hier soll es darum gehen, angeleitet von unterschiedlichen Künstlern, auch selbst verschiedene Zeitlichkeiten auszutesten.
Einer Veranstaltung dieses Umfangs geht sicherlich eine lange Arbeitsphase voraus. Wie seid ihr an die Gruppe Künstler und Eingeladene gekommen, die es jetzt geworden ist?
Ich fange mal mit dem wissenschaftlichen Format an. Da haben wir zunächst Carrie Sandahl, die eine Koryphäe auf dem Gebiet der Disability Performance ist. Auch wir wünschen uns natürlich diesen internationalen Austausch. Disability Studies, insbesondere solche, die sich mit Disability Performance Studies auseinandersetzen, gibt es in Deutschland in dieser Form nicht. Ein weiterer Gast wird Sandra Umathum sein, die Mit-Herausgeberin des Buches “Disabled Theater” ist. Wir haben außerdem eine Vortragssektion, die mit Künstler*innen besetzt sein wird, das wird unter anderem Raquel Meseguer sein, die an den Themen chronische Schmerzen und Rest gearbeitet hat und die gerade, weil sie über resting spaces und Ähnliches nachdenkt, natürlich eng an unser Thema Zeitlichkeit anknüpfen kann.
Du bist selbst sehr involviert in die Festival- und Symposiumsvorbereitung. Was war dir besonders wichtig?
Mir persönlich war es ein Anliegen, dass wir möglichst viele Perspektiven auf das Thema Behinderung und Zeitlichkeit vertreten haben – gerade diejenigen, die in Deutschland noch nicht so im Fokus stehen. Mit unseren Künstler*innen sind wir dahingehend sehr gut aufgestellt. Mit Meine Damen und Herren haben wir beispielsweise eine Gruppe, die schon sehr lange dem Festival verbunden ist. Michael Turinsky kommt als Choreograph aus dem Tanz, ist selbst im Rollstuhl unterwegs. Wichtig war mir auch der Blick auf die eher nicht sichtbaren Behinderungen, gerade im Bezug zum Thema Zeitlichkeit. Natürlich spielt auch für eine Person im Rollstuhl Zeitlichkeit eine Rolle, aber dort wird überwiegend über Raum und räumliche Barrieren gesprochen. Ich habe das Gefühl, dass bei den nicht sichtbaren Behinderungen Zeitlichkeit vielleicht eine noch größere Rolle spielt.
Schlägt sich diese Auseinandersetzung auch konkret in der Symposiumsgestaltung nieder?
Ja. Mir war es wichtig, andere Zeitlichkeiten auch im Ablauf unseres Symposiums sichtbar zu machen. Deshalb gibt es all die Matratzen, die hier – neben den Sitzgelegenheiten – als jederzeit nutzbare Ruhemöglichkeiten aufgestellt sind. Auch in der Planung der Diskussionen haben wir das Thema Zeitlichkeit aufgegriffen, wenn wir beispielsweise nicht 15, sondern 30 Minuten einplanen. Und natürlich die langen Pausen – die Mittagspause etwa dauert 90 Minuten.
Was sollten die Teilnehmer aus diesen zwei Tagen unbedingt mitnehmen?
Toll wäre es, wenn mit dem Symposium das Interesse an unserem Thema geweckt und vielleicht ein Austausch gestartet werden kann. Eine Möglichkeit dazu bietet das Festival zweifellos, es fängt ja gerade erst an. Zeitlichkeit ist für uns alle ein Thema, es gibt so viele zeitliche Normen, die wir einfach sehr selten reflektieren. Es fehlt dieses Gefühl für die eigenen zeitlichen Bedürfnisse. Innezuhalten und auf diese Bedürfnisse zu hören, sollte für uns alle viel wesentlicher sein.