Welt aus Spiegelbildern

In seiner Ballade “Minotaurus” steht das Labyrinth des mythischen Stiermenschen für die Welt. Heute Abend erzählt das italiensiche Teatro la Ribalta in “Minotauro” davon

Von Lea Sophie Preußer und Natalia Frumkina

Heute Abend bei Grenzenlos Kultur: “Minotauro” vom Teatro la Ribialta © Festival

Irrweg, Angst, Erkenntnis, Selbstfindung, Verwirrung, Geborgenheit, Chaos – mit dem Begriff “Labyrinth” verknüpfen sich viele Assoziationen wie Bedeutungen. Er ist von ambivalentem Charakter, gut und böse, positiv und negativ. In dem hunderte Jahre alten griechischen Mythos “Minotaurus” ist das Labyrinth ein Gefängnis. Für den Schriftsteller Dürrenmatt ist es ein Symbol für die Welt, die für den Menschen unüberwindbare Hürden und unbegreifliche Tiefen darstellt.Inspiriert von Dürrenmatts Ballade “Minotaurus” wird heute die 14. Ausgabe des Festivals Grenzenlos Kultur mit einer Tanztheater-Variation eröffnet. Beeinflusst von Pina Bauschs Choreografien erzählt das italienische Teatro la Ribalta, wie “Verschiedenheit entsteht, wann immer ein Mensch sich selbst begegnet und sich nicht erkennt”, wenn ein Mensch im Labyrinth der Welt feststeckt.

Im antiken Mythos ging es noch um Liebe, List und Heldentaten: Minos, Sohn des Götterkönigs Zeus, bat den Meeresgott Poseidon um ein besonders prächtiges Tier, das er dem Gott zu Ehren opfern konnte. Poseidon erhörte Minos’ Bitte und schickte ihm aus der Meerestiefe den schönsten und kräftigsten Stier, welchen es auf Kreta je gab. Minos aber beschloss, den Stier zu behalten. Aus Zorn verzauberte Poseidon Minos’ Frau Pasiphaë, welche sich daraufhin in den Stier verliebte. Sie ließ den Architekten und Baumeister Daidalos ein hölzernes Kuhgestell bauen, in das sie hineinkletterte, als der Stier es bestieg. Pasiphaë gebar ein Ungeheuer, ein Wesen mit menschlichem Körper und einem Stierkopf – den Minotaurus (“Minos’ Stier”). Minos sperrte es in ein von Daidalos erbautes Labyrinth, aus dem der Minotaurus nicht entkommen konnte.

Alle neun Jahre sollten die Athener sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen aus den nobelsten Familien nach Kreta schicken, um den Zorn des Minos zu mildern: Die 14 Männer und Frauen wurden in das Labyrinth des Minotaurus gebracht und fielen ihm zum Opfer. Als die Abgabe zum dritten Mal fällig wurde, empörte sich das athenische Volk über König Aigeus, der als einziger seinen unverheirateten Sohn nicht opfern wollte. Daraufhin meldete sich Aigeus’ Sohn Theseus freiwillig, in das verhängnisvolle Labyrinth zu gehen und das gefräßige Ungeheuer zu töten. Als Minos’ Tochter Ariadne den jungen Helden erblickt, verliebte sie sich in ihn und überreichte ihm ein Fadenknäuel und ein Schwert. Mit dem Schwert tötete er den Minotaurus und gelangte mit dem Faden, dessen Ende er fürsorglich am Ausgang festgeknotet hatte, unversehrt aus dem Labyrinth.

Das Motiv des Labyrinths für die Wirrnisse des Lebens, denen der Mensch hilflos ausgeliefert ist, beschäftigt Dürrenmatt in vielen seiner Werke. Der Mensch ist dabei immer Minotaurus, nie Theseus. Es gibt keinen Ausweg, über die Mauern kann niemand blicken. Vielleicht ist der Mensch grundsätzlich ein Minotaurus, der beide Seiten in sich trägt, das Göttliche und das Dämonische. Für Dürrenmatt war die Welt, in die er hineingeboren wurde, ein Labyrinth, der Ausdruck einer rätselhaften mythischen Welt, die er nicht verstand, die Unschuldige schuldig spricht und deren Recht unbekannt ist. Er entwirft in seiner Ballade “Minotaurus” ein ganz anderes Bild dieser Figur. Er stellt einen unwissenden Einzelnen dar und verdeutlicht die Beziehung zwischen dem Minotaurus und seinen Spiegelbildern, genauso wie gegenüber Theseus, seinem Opfer und Mörder – oder Richter. Der Minotaurus ist hier in ein Spiegellabyrinth gesperrt und so mit seinem eigenen Abbild konfrontiert, kann sich beispielsweise auch als Gott der Spiegelbilder betrachten, weil sie ihn nachahmen. Es ist der Kampf des Einzelnen, nicht nur gegen ein Kollektiv, sondern auch gegen sich selbst. Ein Kampf, dem man nicht entgehen und den man nicht gewinnen kann.

Das Labyrinth kann künstlerisch nicht nur als Motiv verarbeitet werden, sondern auch im Werk selbst, in seinen narrativen Strukturen auftauchen. Durch welches Labyrinth das Teatro la Ribalta seine Zuschauer heute Abend führen wird, muss jeder selbst sehen und erleben.

Lea Sophie Preußer

Lea Sophie Preußer, geboren 1990 in Wiesbaden, studiert Kulturanthropologie, Publizistik, Literaturwissenschaft und Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Als freie Redakteurin schreibt sie für verschiedene Lokalzeitungen wie der Allgemeinen Zeitung Mainz und betreut ihren eigenen Flohmarktblog. Schon 2011 war sie Teil des Bloggerteams für das Grenzenlos Kultur Festival. Nebenbei arbeitet sie als Redaktionshilfe beim ZDF. Mehr unter www.marktwelten.de und auf Twitter @LeSophie.