Grenzen werden niedergerissen, doch statt frei zu sein, bleibt der Mensch orientierungslos. Gänge verzweigen sich, einst gerade Wege verweben sich ineinander. Was bleibt, ist ein Stimmengewirr, das einem den Weg weisen will – zumindest in der Tanztheater-Variation “Minotauro” des italienischen Teatro la Ribalta nach Friedrich Dürrenmatts Ballade, die gestern das Festival Grenzenlos Kultur eröffnete.
Grundlage ist der Mythos von Minotaurus, halb Mensch, halb Stier, der vom König Kretas in ein Labyrinth gesperrt wird, aus dem er nie entfliehen kann. Um ihn zu töten, wagt sich der Königssohn Theseus in das Labyrinth, um den Dämon zu töten – ein Faden von Minotauros Halbschwester Ariadne soll ihm den Weg nach draußen zeigen. In seiner Interpretation des griechischen Mythos, der Ballade “Minotaurus” von 1985, verarbeitete der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt seine Erfahrungen mit der Stadt, dem Leben und seinen Verwirrungen. Minotaurus wird hier in ein Spiegellabyrinth gesperrt, so mit sich selbst konfrontiert und verliert den Kampf.
Die italienische Tanztheater-Variation dieses Motivs, choreographiert von der Pina-Bausch-Tänzerin Julie Anne Stanzak, führt mitten hinein ins innere Labyrinth. Mattia Perettos muskulöser Minotaurus sitzt hoch oben auf einer Mauer, dem Eingang des Labyrinths. Hierhin wird er nicht mehr zurückkommen. Melanie Goldner, mit ihrem Rollstuhl versteckt in einer Ecke, beschreibt bewegend ihre Suche nach einem Ort, wo es keine Verwirrung, keine Gänge, keine Türen gibt, wo sie nicht mehr alleine ist, sondern einzigartig. Wer oder was ist sie? Minotaurus Gewissen? Man erfährt es nicht. Schicksalhaft wird ihr ein roter Faden in die Hand gelegt, der aus der Decke zu kommen scheint. Sie zieht an ihm, wieder und wieder, doch sein Ende kommt bis zum Ende des Abends nicht zum Vorschein. Ist er unendlich? Liegt sein Ende im Menschen selbst?
Stanzaks Inszenierung ist eine Berg- und Talfahrt durch mitreißende Szenen und völlige Verwirrung. Sie schwankt zwischen grausamer Übertreibung, dröhnenden Boxen, eindeutigen Bildern und zärtlichen Momenten, Augenblicke der Stille und der Reflexion. Barocktänze und sanfter Pop dröhnt aus den Boxen, die wenigen Worte, die gesprochen werden, gehen im Getöse verloren. Die Tänzer jagen über die Bühne, ihre Arme wild in der Luft, sie schlagen die Luft und sich selbst, als wäre dort ein Feind. Dann herrscht plötzlich Stille. Mit einem Schlag werden eine Dutzend rote Rosenblätter von der Decke auf die müden Tänzer niedergeschüttet. Wie in Sam Mendes’ Film “American Beauty“, wenn der Kampf gegen das eigene Ich und für die Freiheit aufgegeben wurde, regnet es rote Rosen.
Allerdings: Wer Dürrenmatts Labyrinth nicht kennt, den wird kaum das Gefühl verlassen, zu wenig zu verstehen. Wer allerdings das vor allem von Alexandra Hofer verkörperte Spiegelmotiv erkennt, wird während der Aufführung immer wieder glauben, den Sinn entdeckt zu haben – um ihm wie in einem Labyrinth vergebens hinterherzujagen: Immer wieder scheint er hinter der nächsten Abbiegung zu liegen. Doch das Puzzle bleibt Stückwerk.
Getragen wird die Aufführung von Melanie Goldner im roten Kleid. Sie streut von der Mauer herab Rosen auf Minotaurus, reißt später vorne expressiv die Arme in die Luft, um sie vorm Herzen zusammenzupressen – berührende Gesten aus Pina Bauschs Repertoire. Gerade die Momente mit Perettos Minotaurus werden so zu Kraftzentren des Abends.
Aber warum muss Manuela Falser in der Ecke sitzen und unentwegt am Faden ziehen? Ist sie Sinnbild für das Leben? Vielleicht ließe sich eine Antwort finden, wenn die deutschen Untertitel des italienischen Monologs lesbar gewesen wären. Vor allem aber enttäuscht mit Alexandra Hofer die einzige nicht-behinderte Darstellerin des Abends, die im Labyrinth nach ihrem Schatten sucht wie nach ihrer Rolle. Sie hält das Feuerzeug nach vorne, schaut aber nach hinten. Ihr Lachen ist schrill, von Wahnsinn erfüllt, ihre Bewegung aber unbeholfen und mit falschem Pathos aufgeladen.
Auch sie kann die Frage nicht beantworten, was hier eigentlich gespielt worden ist: eine Liebesgeschichte? Der ewige Kampf mit und gegen sich selbst? Das innere, unendliche Labyrinth, aus dessen Wirrnis es kein Entrinnen gibt? In diesem Fall zumindest wäre “Minotauro” ein angemessenes Abbild.