Das Theater sei das schönste und älteste Lügengewerbe der Welt, schrieb der Literaturkritiker Gustav Seibt einmal: „Ein wunderbarer Zauberkasten: Es zeigt wirklich, was in Wirklichkeit nicht ist. Hamlet stirbt und geht anschließend Spaghetti essen.“ Jeder weiß, dass das, was er da vorne auf der Bühne sieht, nicht der Realität entspricht. Dennoch es gibt einige Aufführungen, die der Zuschauer nach der Vorstellung mit in seine Wirklichkeit nimmt. Inszenierungen, die nicht nur von schauspielerischem Talent und großen Namen, sondern von Magie und einem Hauch Wirklichkeit getragen werden. Solche habe ich vergangenes Jahr auf dem Grenzenlos Kultur Festival in Mainz entdeckt. Ich hoffe, dass ich sie dieses Jahr bei der 14. Ausgabe dort wiederfinden werde.Dieses Jahr steht das Festival unter dem Motto „Gespenster der Freiheit“. Wie frei sind wir wirklich? Wer bestimmt was? Wer oder was spricht aus uns, wenn wir sprechen? Eigentlich spielt das Motto nur eine kleine Rolle für das Festival. Vergangenes Jahr hieß es „Natürlichkeit“ und erwies sich nur als ein Aspekt von vielen. Unwahrscheinlich, dass sich die Zuschauer in diesem Jahr nur über das Thema „Freiheit“ Gedanken machen werden. Und mir wird mit Sicherheit auch dieses Jahr nicht jede Inszenierung gefallen. Aber darauf kommt es bei Grenzenlos Kultur nicht an. Denn neben schönen, komischen, verstörenden und langweiligen Inszenierungen, die ich mal mehr und mal weniger verstanden habe, gibt es bei diesem Festival einen Aspekt, der nicht ignoriert werden kann: Auf der Bühne stehen Menschen mit und ohne Handicap. An sich sollte das kein Thema sein. Ist es aber. Wo der Umgang mit Behinderten in den Medien und der Öffentlichkeit allerdings oft von Unsicherheit und Klischees geprägt ist, wird hier die künstliche Grenze zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen spielerisch aufgehoben. Zwar kann der Zuschauer die Behinderung sehen oder hören, aber es spielt keine Rolle, weil alle auf der Bühne Rollen spielen.
Gerade deshalb freue ich mich besonders auf die Inszenierung „Lost Love Lost“ vom Berliner Theater RambaZamba. Denn hier werden vier Shakespeare-Stücke genutzt, um den Selbstbefreiungsakt durch das Spielen zu verdeutlichen. In der Beiläufigkeit, mit der sie Grenzen sprengen, liegt die Magie der Grenzenlos Kultur Festivals. Jede ihrer Inszenierungen baut einen Zauberkasten, der immer auch einen Funken Wahrheit enthält. Und hinterher gehen alle Spaghetti essen.